Sie haben es also doch getan: Die Muslimbruderschaft schickt einen Kandidaten - und zwar gleich ihre Nummer zwei, Khairat al-Shater - ins Rennen um die ägyptische Präsidentschaft, die im Mai erstmals in freien Wahlen vergeben wird. Die Versicherungen der Muslimbrüder im Jahr nach dem Umsturz, sich nicht um das Präsidentenamt bewerben zu wollen, hatten zwar indirekt bereits den Geruch der Übermacht in sich getragen: Die Brüder hätten, so ließen sie selbst verlauten, kein Interesse daran, alle Aspekte des politischen Lebens im postrevolutionären Ägypten zu kon trollieren. Aber immerhin, sie agierten politisch weise und pragmatisch.

Und nun die Wende: Die Bruderschaft beziehungsweise ihre Partei FJP (Freiheits- und Gerechtigkeitspartei) hält 45 Prozent der Sitze im Parlament, beansprucht die Regierungsbildung (was ihr nach demokratischen Spielregeln wohl zugestanden werden müsste), dominiert die Verfassunggebende Versammlung und will das Präsidentenamt für sich. Das Spannende daran jedoch ist, dass die Muslimbrüder nicht etwa aus einem Gefühl der Omnipotenz, aus einem Machtrausch heraus agieren - sondern eher aus einem Zustand der plötzlichen Schwäche und der Zerrissenheit.

Dabei spielt nicht nur ihre bisher fruchtlose Auseinandersetzung mit dem regierenden Militärrat eine Rolle, dem die FJP das Recht auf eine Kabinettsbildung abringen will: Die könnte der Bruderschaft sogar einen demokratischen Gutpunkt einbringen, denn bis vor kurzem hatte sie sich ja mit der Armee recht gut arrangiert. Einen chancenreichen Präsidentschaftskandidaten aus diesem Eck hätte sie hingenommen, und auch, dass das alte politische Schlachtross Amr Moussa die Wahlen gewinnt. Aber zwei starke Präsidentschaftskandidaten mit islamistischem Stallgeruch, denen auf der Straße zugejubelt wird, auch von Anhängern der Bruderschaft, das konnte sie nicht mehr hinnehmen.

Der eine ist Abdel Moneim Abul Futuh, und er wurde sogar aus der Bruderschaft hinausgeworfen, als er sich über das Kandidaturverbot für Muslimbrüder hinwegsetzte. Der zweite ist Hazem Salah Abu Ismail, der Mann, den die radikalislamischen Salafisten in die Wahl schicken. Er ist bei Umfragen unter jungen Muslimbrüdern nach Abul Futuh die Nummer zwei. Zum ersten Mal dämmert den Muslimbrüdern die Tatsache, dass sie eine ernsthafte islamistische Konkurrenz in Ägypten haben. Das macht die Moscheen - hier nicht so sehr als sakraler, denn als sozialer Raum gemeint - zum Ort des inner islamischen Wettbewerbs.

Die Konkurrenzsituation mit den Salafisten sollte die Muslimbrüder eigentlich für die säkularen Ägypter als das geringere Übel dastehen lassen: Aber die Bruderschaft hat in den vergangenen Wochen jedes zarte Pflänzchen des Vertrauens dieser Seite vertilgt, als sie bei der Bildung der Verfassunggebenden Versammlung über den säkularen Sektor drüberfuhr.

Und nun hoffen sie darauf, dass Khairat al-Shater, der in der Tat ein starker Kandidat ist, alles wieder gutmacht, zumindest für die eigene Klientel. Aber auch hier gibt es zum Teil Ärger wegen des gebrochenen Versprechens der Enthaltsamkeit. Es ist nicht ganz ungefährlich für die Muslimbrüder: Wenn Shater nicht gewinnt, ist viel Glanz ab. Für Amr Moussa - oder einen Kandidaten der Armee - ist Shater hingegen eine neue Chance, denn sie brauchen eine Zersplitterung der islamischen Stimmen. (DER STANDARD, 2.4.2012)