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Türkische Journalisten protestieren gegen die Verhaftung von Kollegen,  95 Journalisten befinden sich derzeit in der Türkei in Haft.

Foto: AP/dpa

Kein Aprilscherz: Seit 1. April stehen wir alle unter Generalverdacht. Seitdem ist die Vorratsspeicherung in Kraft. Sechs Monate lang kann nun auch bei nur leisestem Verdachtsmoment in unserem Leben herumgeschnüffelt werden. Ein wunderbares Instrument für beflissene Sicherheitsbeamte, Neugierde und ohnedies stark ausgeprägtes Machtgefühl auszutoben. Nun sind sie wieder Respektspersonen total. Datenschützer sprechen von Bürgerbespitzelung. Es lebe der moderne Überwachungsstaat à la Metternich.

Per Gesetz darf das Sicherheitspersonal jetzt ungestraft in unserem Alltag herumschnüffeln. Sogar bei nur scheinbar schlüssigem Verhalten oder sogenannt unbotmäßigen Meinungsäußerungen, geäußert in privaten Telefongesprächen, dürfen zudem die Helden der Sicherheit in unserer Umwelt recherchieren. Man hat ja sonst nichts zu tun. Hausmeister gibt's zwar kaum noch, dafür aber in Hülle und Fülle wohlwollende Nachbarn, die nun via Vernaderung ungehemmt Frustrationen abbauen können. Jedem sein eigener, kleiner "Tatort". Selbst wenn nichts dabei herauskommen sollte, irgendetwas wird schon hängen bleiben. Mögliches Ergebnis: türkische Früchte.

Hochexplosives Informationsmaterial

Erschütternd sind die jüngsten OSZE-Daten über verfolgte JournalistInnen in der Türkei, am Montag veröffentlicht auf der Website der in Wien stationierten OSZE-Medienbeauftragten Dunja Mijatovic. Erschütternd, weil akribisch genau recherchiert, in kargen Rastern festgehalten, ohne jeglichen zusätzlichen "schmückenden" Kommentar. De facto birgt die Datenbank hochexplosives Informationsmaterial.

Zum ersten Mal liegt schwarz auf weiß tatsächliches Wissen über auch gerichtlich manifestierte Missachtung und Verhöhnung professioneller journalistischer Freiheit in der Türkei auf dem Tisch. Schluss ist nun mit reiner Mutmaßung. Die zusammengetragenen Fakten sprechen für sich: 95 JournalistInnen sind in extremer Gefahr.

30 Medienmenschen stehen derzeit vor Gericht, 34 warten seit Jahren auf ihr Verfahren, manche sitzen monatelang in Untersuchungshaft, derzeit sind es sieben. 24 JournalistInnen wurden zu Haftstrafen verurteilt, die meisten zu 15 oder mehr Jahren Freiheitsberaubung in türkischen Gefängnissen. Erdal Süsem, Herausgeber eines Kultur- und Kunstjournals für Häftlinge, erhielt lebenslang, ebenso wie der krebskranke Chefredakteur Erol Zavar. 2001 war Zavar vernadert worden. Irgendjemand hatte sich beklagt, Zavar habe für eine illegale Organisation Geld gesammelt.

Das wirft kein gutes Licht auf die Türkei und deren Umgang mit JournalistInnen. Da hilft auch nicht die kürzliche Freilassung der prominenten Journalisten Nedim Şener, Ahmet Şık, Sait Çakır und Coşkun Musluk. Seit 6. März 2011, also gut ein Jahr lang, saßen sie in Untersuchungshaft.

Sie hatten in Sachen Ergenekon recherchiert, auch sie waren deshalb wegen Kollaboration und Zugehörigkeit zu dieser Terrororganisation angeklagt worden. Sie sind zwar jetzt auf freiem Fuß, doch die Prozesse gehen weiter. Der türkische Vize-Premier Bülent Arınç nannte immerhin die Entlassung eine "positive Entwicklung". Traurig sei, dass sie 375 Tage inhaftiert gewesen seien.

Die Vorratsdatenspeicherung in den Staaten der EU wirft allerdings auch kein tolles Licht auf diesen Staatenbund, der sich Friedensbildung auf die Fahnen geschrieben hat. Wer im Glashaus sitzt, der kann, tut leid, nicht mit nacktem Finger auf andere zeigen. (Rubina Möhring, derStandard.at, 2.4.2012)