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Putschführer und Präsident (1982-89): Kenan Evren.

AP Photo, File

Ankara/Istanbul - Der eine hat sich den Arm gebrochen und eine Darmoperation hinter sich, der andere soll grundsätzlich in schlechter Verfassung sein: Kenan Evren (94) und Tahsin Sahinkaya (87), die beiden letzten lebenden Führer der fünfköpfigen Junta von 1980, waren zum Prozessauftakt am Mittwoch nur per Video in den Saal der 12. Großen Strafkammer in Ankara zugeschaltet. Auf eine Verlesung der Anklageschrift verzichteten die Richter unter diesen Umständen. Mit dem Beginn des Verfahrens schreibt die Türkei gleichwohl Geschichte.

Mehrere tausend Menschen kamen am Morgen vor den Justizpalast von Ankara. Ehemalige Häftlinge der Putschjahre berichteten, mit einer Schweigeminute wurde der Opfer des blutigsten der drei Staatsstreiche (1960, 1971, 1980) gedacht. "Wir haben den 12. September nicht vergessen. Wir verzeihen nicht", stand auf Schildern, oder: "Paschas wie Strohmänner werden abgeurteilt".

Die Generäle, die am 12. September 1980 die türkische Regierung gestürzt und das Kriegsrecht ausgerufen hatten, wurden ihrer Machtfülle wegen " Paschas" genannt. Dass auch Hintermänner und Gefolgsleute des Coups der Prozess gemacht wird, forderte Sezgin Tanrikulu, eine der Vizechefs der größten Oppositionspartei CHP. "Die Folterknechte dieses Staatsstreichs sind immer noch auf freiem Fuß. Auch sie müssen für ihre Taten zur Verantwortung gezogen werden. Andernfalls wird es keine Gerechtigkeit geben."

650.000 Menschen wurden in den Tagen und Wochen nach dem Putsch von 1980 ins Gefängnis geworfen. 230.000 kamen vor Militärgerichte, an 50 Verurteilten wurde die Todesstrafe vollstreckt. Folter war weitverbreitet, die Gefängnisinsassen - zumeist politisch links stehende Aktivisten, aber auch Rechtsextreme und Islamisten - kamen zum Teil erst in den 1990er-Jahren frei.

Neue Gesellschaft

Die Welle der Repression nach dem Coup von 1980 trieb zahlreiche türkische Intellektuelle in die Emigration nach Deutschland und Österreich. Kenan Evren und seine Generäle verboten Parteien, Gewerkschaften und lösten das Parlament auf. "Im Gefängnis und bei den Verhören wurde uns gesagt: 'Wir werden eine solche Generation schaffen, die euch nicht mehr erkennen wird'", berichtete einer der damaligen Gefangenen, der renommierte Journalist der liberalen Tageszeitung Radikal, Ertugrul Mavioglu, am Mittwoch im Nachrichtensender ntv. Mavioglu saß acht Jahre ohne Anklage im Gefängnis.

Die Putschgeneräle von 1980 schufen eine neue Gesellschaft und veränderten die politische Landschaft in der Türkei nachhaltig. Die Ausschaltung der Linken und die Bevormundung durch das Militär begünstigten den Aufstieg des politischen Islam zunächst unter dem Premier und späteren Präsidenten Turgut Özal, dann mit den Wahlsiegen der islamistischen Refah-Partei von Necmettin Erbakan in den 1990er-Jahren und schließlich der konservativ-muslimischen AKP des heutigen Premiers Tayyip Erdogan. Erst die von ihm betriebene Verfassungsänderung von 2010 machte den heutigen Prozess möglich. (Markus Bernath, DER STANDARD, 05.04.2012)