Mit einer der Vorteile jedes Mythos ist, dass sich ein Mythos nicht der lästigen Frage stellen muss, ob auch wirklich alles haargenau stimmt.
So ist das auch mit Robert Plath und der Erfindung des Trolleys: Der ehemalige US-Pilot gilt nämlich als Erfinder des Rollkoffers. 1987, so die Legende, sei Plath des Schleppens seiner Pilotenkoffer durch endlose Flughafengänge überdrüssig gewesen - und habe Hand angelegt: Er schraubte unten Räder und oben eine Teleskopstange an - und hatte den Trolley erfunden.
Damit nicht genug: Der damals 46-Jährige wurde von Kollegen und Vielfliegern, die bis dahin ihre Koffer auf kleine Sackrodeln banden, beneidet - und es dauerte nicht lange, bis der Mann aus Boca Raton (Florida) Millionär war.
Eine schöne Geschichte. Nur wird sie dadurch, dass sie auf der Webseite von Plaths (längst verkaufter) Firma Travelpro, und auf denen renommierter US-Medien steht, nicht wahrer: Plath hat den Trolley optimiert und verhalf ihm zum Durchbruch als globales Businessreise-Accessoir - aber erfunden hat er ihn nicht.
Das Patent auf "Rolling Luggage" meldete ein gewisser Bernard Sadow 1972 in den USA an. Doch das französische Label Delsey stellte schon 1971 erste rollende Hartschaler vor. Samsonite folgte 1974 - wird aber dennoch oft als "Erster" angeführt. Doch "Erfinder" nennen sich weder die Amerikaner noch die Franzosen.
Spiegel der Reisebedingungen
Aus gutem Grund: Schon um 1890 präsentierte eine deutsche Wagner- und Sattlerzeitung einen "Herrenkoffer", der "zur leichteren Bewegung" Rollen hatte. Und bereits 1853 riet Leopold Fröhlich's Universal-Reisetaschenbuch: Ein unentbehrliches Handbuch für Fußreisende, insbesonders für Handwerker und technische Künstler Fußreisenden, Rollen ans Gepäck zu montieren. So, hieß es, zöge man "sein Gepäck hinter sich her, bis man wieder Luft zum Tragen bekömmt".
Die Idee sei gut, doch die Welt - genauer: die Straßen und Wege - noch nicht bereit gewesen, erklärt Claudia Selheim. Gepäck, zeigt die Leiterin der Volkskundesammlung im "Germanischen Nationalmuseum" in Nürnberg in der Ausstellung Reisebegleiter, war stets der Spiegel der Reisebedingungen und einer Epoche - auch wenn es in der öffentlichen Wahrnehmung als Mobilitätsindikator oft ein stiefmütterliches Dasein fristet. Dabei erzählt es oft mehr über die Art und Mühsal des Reisens als Reiseberichte.
Auf der "Walz"
Wickelten Handwerksburschen auf der "Walz" im 18. Jahrhundert ihre Habe noch in Tücher oder stopften sie in - im weitesten Sinn Umhängetaschen ähnelnde - Fellsäcke, zeigten Kutschenreisende allein durch die "untragbare" Form ihrer Reisetruhen ihren Stand. Doch auch sie mussten sich dem Verkehrsmittel anpassen: Schon damals nervten Handgepäcksnormen: Größe und Gewicht waren limitiert - bei fünf Kilo war Schluss.
Die große Zeit des großen Gepäcks kam mit der Eisenbahn. Stapelbares, robustes "Aufgabegepäck" wurde zum - mitunter problematischen - Statussymbol. Als Mark Twain 1897 am Wiener Westbahnhof ankam, wäre seine Reise fast an einem bis heute noch bekannten Problem gescheitert: Es gab nicht genügend Wagen. Freilich nicht für eine Vielzahl an Reisenden, sondern für die Vielzahl der twainschen Koffer.
Die Dietrich und ihre vielen Koffer
Als "großer Apparat" wurden solche Mengen endgültig salonfähig, als das Reisen auch per Schiff luxuriös wurde: Waren Erste-Klasse-Kabinen auf Kreuzfahrtschiffen bis zu den 1890er-Jahren meist nur sechs Quadratmeter klein und die "Schiffskoffer" daher so genormt, dass sie unter Kommoden und Betten passten, änderte sich das schlagartig: "Es ist besser, zehn Gepäckstücke zuviel mitzunehmen, als eines zuwenig", empfahl 1903 die Fibel Ein Ratgeber für den guten Ton. Louis Vuittons 1875 präsentierter Schrankkoffer wardrobe war außen wie innen mehr Schrank denn Koffer - er bot, neben Schubladen und Fächern, Hängeplatz für 15 bis 18 Damenkleider.
Als Marlene Dietrich 1936 über den Atlantik fuhr, standen 21 Seekoffer, 35 große, 18 mittelgroße, 9 kleine Koffer, sowie fünf Hutschachteln auf ihrer Gepäckliste. Was das wog? Kein Thema.
Gepäck im Schleudergang
Gewicht und seine Reduktion wurden erst über die Luftfahrt ein Faktor. Und sind heute das Maß aller Dinge, bestätigt Dieter Morszeck, Präsident des Kölner Edel-Aluminiumkofferherstellers Rimowa, der 2000 als erster das noch leichtere Polycarbonat einsetzte. Essenziell, so Morszeck, sei aber auch die Stabilität - erst recht, seit Fluggepäck fast ausschließlich maschinell sortiert wird: "Die TÜV-Tests sind ganz schön hart - da möchte man kein Koffer sein." So werden Rollkoffer unter anderem einer "Fallprüfung" ausgesetzt - im Schleudergang in überdimensionalen Waschtrommeln.
Zur Gratwanderung zwischen Widerstandsfähigkeit und Gewicht, komme aber noch ein Aspekt, erklärt Henry Hoogeenveen, beim Outdoorlabel The North Face für Ausrüstung zuständig: "Man kann extrem leicht und robust werden - aber das wird so teuer, dass es unverkäuflich ist."
Räder und eine Teleskopstange
Und während die Businessreisewelt auf Hartschale setzt, ist im Sport- und Freizeitequipment heute der weichere, aber ebenso robuste Dufflebag Standard. Weiches Material sei nicht nur beim Packen flexibler, betont Hoogeenveen: "Es gibt Gepäck, das nicht nur vom Hotel zum Flughafen reist."
Freilich geht auch hier der Fokus dorthin, wo er schon um 1850 war: Zum Rad an der Tasche ("bis man wieder Luft zum Tragen bekömmt").
Und während Trolleys heute sogar von Schulkindern gezogen werden, wird einer mitunter wehmütig, wenn die Rede auf rollendes Gepäck kommt: Robert Plath. Denn, bedauert der Multimillionär in einem Interview mit USA-today, den wichtigsten Koffer seines Lebens habe er aus den Augen verloren: Den ersten, an den er Ende der 80er-Jahre Räder und eine Teleskopstange montiert hatte. (Thomas Rottenberg, Rondo, DER STANDARD, 06.04.2012)