Foto: daStandard.at/youtube.com
Foto: edicija putevi

"Ich schlief am Gang. Neben der Stützmauer, sagte Vater. Der damals Papa war. Was immer passiert, da ist er sicher, sagte er. Ja, da ist es am besten, sagte Mutter. Die damals noch immer Mama war. (...) Dann seufzte sie. Tief. Und sagte: Ihm wird schon nichts passieren. Dann seufzte sie noch tiefer. Und sagte: Außer sie kommen an die Tür."

So beginnt der 2008 in Belgrad erschienene und kontrovers diskutierte Roman "Die Kanone war heiß" ("Top je bio vreo"). Der Autor Vladimir Kecmanović, Jahrgang 1972, geboren und aufgewachsen in Sarajevo, hat sein Literaturstudium in Belgrad abgeschlossen, wo er heute als Schriftsteller und Journalist tätig ist. Umstritten ist Kecmanović wegen seiner provokanten politischen Wortmeldungen und Polemiken, die ihn im Dunstkreis serbisch-nationalistischen Gedankenguts vermuten lassen.

Serben im belagerten Sarajevo

Sein bekanntester Roman ist die literarische Aufarbeitung eines Themas, das in der Auseinandersetzung mit der Belagerung Sarajevos häufig ganz ausgespart oder aber für politisches Kleingeld instrumentalisiert wird: Die Rede ist vom Schicksal der bosnischen Serben in der belagerten Stadt.

Zu Beginn des Krieges war fast jeder dritte Bewohner Sarajevos serbisch (laut der Volkszählung von 1991 waren es 29,8 Prozent). Heute sind fast 80 Prozent der Einwohner Sarajevos Bosniaken, was von serbischen Nationalisten gerne als eine "ethnische Säuberung" der Hauptstadt interpretiert wird - eine unzulässige Umkehrung der Kausalitäten, denn die serbischen Bewohner waren von der Belagerung durch die bosnisch-serbische Armee ebenso betroffen wie alle anderen Bewohner und nutzten ebenso wie alle anderen die raren Möglichkeiten zur Flucht. Dass nach dem Krieg viele nicht mehr nach Sarajevo zurückkehrten, dürfte auf unterschiedlichste kollektive und individuelle Gründe zurückzuführen sein, aber die propagandistisch-nationalistische Zahlenspielerei à la "Die Moslems haben die Serben aus Sarajevo vertrieben" hält einer simplen Ursache-Wirkung-Analyse nicht stand, was ihrer Verbreitung jedoch nach wie vor keinen Abbruch tut.

Aus der Perspektive eines Kindes

Um die spezifische Lage der Serben im belagerten Sarajevo darzustellen, bedient sich Kecmanović einer kunstvoll-naiven Sprache. Fast durchgehend handelt es sich um kurze Dialoge und einfache Hauptsätze, die die Handlung in einem rasenden Tempo vorantreiben. Der Ich-Erzähler ist ein zehnjähriger serbischer Bub, dessen Eltern bei einem Granatenangriff ums Leben kommen. Der Bub verliert daraufhin seine Fähigkeit zu sprechen. Eine moslemische Nachbarin nimmt den Kleinen unter ihre Fittiche.

Im allgemeinen Kriegschaos wird die elterliche Wohnung bald beschlagnahmt, die fürsorgliche Nachbarin wird von den anderen Nachbarn immer heftiger dafür angegriffen, dass sie sich des serbischen Waisenkindes angenommen hat. Der Bub treibt sich mit einem älteren Schulkollegen in der Stadt herum, wird Zeuge von unmotivierten Durchsuchungen und Plünderungen serbischer Wohnungen, Vergewaltigungen und anderen kriminellen Handlungen, denen in der belagerten, kriegszerrütteten Stadt keine Autorität mehr Einhalt gebieten kann.

Zeugenschaft des Grauens

Das Kind, das spätestens seit dem gewaltsamen Tod seiner Eltern keines mehr ist, sieht mit an, wie die verbliebenen Serben in doppelter Angst leben: Einerseits fürchten sie die von der serbisch-bosnischen Armee abgefeuerten Granaten, vor denen die eigene ethnische Zugehörigkeit naturgemäß keinerlei Schutz bietet. Andererseits fürchten sie, der Kollaboration mit ebendieser serbisch-bosnischen Armee bezichtigt zu werden und Racheakte durch militärische oder kriminelle Gruppen zu erleiden.

Als der Bub noch einmal die Ermordung eines älteren serbischen Ehepaares aus nächster Nähe mitansehen muss, wobei diesmal seine eigenen "Freunde" die Täter sind, stiehlt er sich davon und flüchtet zu den serbischen Stellungen. Von dort aus schießt er nun selbst auf die belagerte Stadt.

Gelobt und kritisiert

Der Roman wurde für seine literarischen Qualitäten hoch gelobt, jedoch wegen der schockierenden Schlussszene und auch wegen der politischen Orientierung des Autors auch heftig kritisiert. Was immer die (politischen) Beweggründe des Autors gewesen sein mögen, ihm ist ein literarisches Meisterstück gelungen. Man sagt, manchmal ist ein Buch klüger als sein Autor - in diesem Fall mag das wohl so sein.

Kecmanović beschreibt schonungslos sämtliche Schrecken des Krieges, und zwar nicht nur solche, die von unsichtbaren Stellungen in Form von Granaten, Bomben und Patronen kommen, sondern auch solche, die sich in zwischenmenschlichen Interaktionen von Angesicht zu Angesicht abspielen. Die mitunter quälende, aber durchgehend fesselnde Lektüre liest sich wie ein drängender literarischer Appell gegen den Krieg, gegen den Krieg an sich. Ob diese Lesart vom Autor so intendiert war oder nicht, das sei dahingestellt. Der Autor schafft es, einen durch den Krieg entstandenen klaustrophobischen Mikrokosmos in allen Schattierungen darzustellen.

 

Trailer der Verfilmung "Top je bio vreo"

Im Übrigen geht die Romanverfilmung mit dem Zuschauer gnädiger um als die literarische Vorlage mit dem Leser: Im Film treffen der Bub und die fürsorgliche Nachbarin 15 Jahre später wieder aufeinander und finden zueinander in gemeinsamer Trauer um ihre verlorenen Angehörigen. (Mascha Dabić, daStandard.at, 6.4.2012)