Am Sonnblickgipfel angekommen: Fritz Moßhammer begrüßt die Tourengeher mit Alphorngesängen.

Foto: Neuhold

Kurt Hörbst aus dem oberösterreichischen Freistadt ist etwas blass um die Nase. Ein klein wenig übel ist ihm auch. Vielleicht ist Kurt doch ein wenig überanstrengt? Auf jeden Fall aber spürt er die Höhe. Er ist zum ersten Mal auf Tourenskiern unterwegs, und das gleich auf den 3106 Meter hohen Rauriser Sonnblick. Die Schwächephase dauert nicht lange: ein paar Schluck Tee, eine wärmende Suppe, und der junge Mann ist wieder hergestellt.

So wie dem Fotografen Kurt Hörbst geht es auch einigen anderen, die Ende März auf Skiern zur Lesung Rauris Extrem ins Zittelhaus auf den Rauriser Sonnblick gekommen sind. Die Lesung ist nicht nur die Abschlussveranstaltung der Literaturtage 2012, sondern gleichzeitig auch ein Abschiedsgeschenk an Langzeitintendantin Brita Steinwendtner.

Sie hat nach 22 Jahren die Leitung eines der renommiertesten Literaturfestivals des deutschsprachigen Raum abgegeben. Ein Festival, das durch sie zu dem geworden ist, was es heute in der Literaturwelt ist. Tags zuvor war sie dafür noch mit dem Österreichischen Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst ausgezeichnet worden. Die Frau Minister höchstpersönlich hat den Weg von Wien ins Pinzgauer Rauris gefunden.

Dass rund 60 Literaturinteressierte die 1500 Höhenmeter auf den Sonnblickgipfel auf sich genommen haben, um ihren Abschied gemeinsam mit den Schriftstellern Bodo Hell und Peter Gruber zu feiern, empfindet "die Brita" - auf über dreitausend gilt das selbstverständliche Du - ebenfalls als hohe Auszeichnung: "Ich bin auf die schönste Weise beschenkt worden", strahlt sie.

Ski am Rucksack

Für Brita, eine routinierte und trainierte Skitourengeherin, meist ist sie in Begleitung ihres Mannes Wolf in den Bergen unterwegs, ist der Sonnblick auch nach einer Woche Literaturtage mit wenig Schlaf und langen Abenden relativ problemlos zu bewältigen.

Andere, wie eben auch der von einem Frauenmagazin mit einem Porträt über Brita Steinwendtner beauftragte Kurt Hörbst, tun sich da schon schwerer. Das erste Kriterium wartet gleich hinter dem Rauriser Talschluss Kolm Saigurn. Von der ehemaligen Bergwerkssiedlung - die gesamte Gebirgsgruppe mit Schareck, Sonnblick und Hocharn heißt bezeichnenderweise Goldberggruppe - geht es gleich einmal steil bergauf.

Der Schnee ist pickelhart, die Spur ausgefahren und eisig. Hier schon trennt sich die bergsteigerische Spreu vom Weizen. Während die Routiniers die Skier auf den Rucksack schnallen und zu Fuß bergwärts stapfen, plagen sich die Ungeübten mit den Skiern an den Füßen ab. Obschon mit Harscheisen bewehrt, machen viele immer wieder mit dem Lenin' schen Prinzip ihren Erfahrungen: ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück. Von einem, von den Skibergsteigern oft beschworenen, meditativen Schlurfschritt ist nichts zu merken.

Erst nach knapp 600 Höhenmetern beim nur in den Sommermonaten bewirtschafteten Naturfreunde-Schutzhaus Neubau hat die Plackerei ein Ende. Eine weite Ebene führt, vorbei an den Ruinen des ehemaligen Knappenhauses, an das Goldbergkees heran. Bedrohlich reißen am unteren Kees einige Gletscherspalten ihre Mäuler auf. Wer mit diesen hochalpinen Gegebenheiten nicht vertraut ist, fühlt sich inmitten dieser Bergriesen auf Fels und Eis schnell seltsam allein. Es wird einem rasch ganz entrisch.

Größere Gruppen mildern dieses Gefühl. Die Gruppe vermittelt eine - oft auch trügerische - Sicherheit, analysiert Hermann Maislinger, Wirt vom Naturfreundehaus in Kolm Saigurn, den alpinistischen Herdentrieb. Diese vermeintliche Sicherheit wiederum führe an Bergen wie dem Sonnblick, dem Hocharn oder dem Großglockner dazu, dass auch solche ins Hochgebirge steigen, die aus Sicht von Hermann Maislinger "da oben eigentlich nichts verloren haben".

Der literarischen Skitourengemeinde, die dem Ruf von "Rauris extrem" gefolgt ist, ist inzwischen schon am Oberen Goldbergkees angekommen. Ihr wird das entrische Gefühl aber nicht nur durch das Gruppengefühl erleichtert.

Der Musiker Fritz Moßhammer hat mit seinem Alphorn vor dem Zittelhaus und der Sonnblick-Wetterwarte Aufstellung genommen. Sirenenartig locken Alphorntöne die Skibergsteiger in immer größere Höhen. So weit, bis der Berg dann plötzlich zu Ende ist und von einigen das wohl unvermeidliche " Berg Heil" ausgerufen wird. Wir sind am Gipfel.

Wo anderenorts meist Symbole des christlichen Glaubens die Bergspitzen zieren, findet sich am Sonnblick eine kleine Siedlung. Neben der Alpenvereins-Schutzhütte, dem Zittelhaus, steht mit dem Sonnblick-Observatorium ein mehrstöckiges Hightech-Labor am Gipfelplateau.

Bereits vor 126 Jahren wurde am Sonnblick eines der weltweit ersten meteorologischen Höhenobservatorien errichtet. Bis heute ist es das höchste ganzjährig besetzte Gipfelobservatorium der Welt. Je zwei Wetterbeobachter betreuen für jeweils 14 Tage die Station.

Dass damals der Sonnblick als Standort ausgewählt worden war, ist eng mit der Bergbaugeschichte des Tales verbunden. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts führte der aus ärmlichen Verhältnissen stammende Gewerke Ignaz Rojacher den Goldbergbau im Talschluss von Rauris zur bisher letzten Blüte. Jährlich rund 15 Kilogramm Gold und 38 Kilogramm Silber wurden Jahr für Jahr aus dem Gestein gewaschen.

Der in Rauris als "Kolm Naz" bekannte Rojacher wird bis heute im Tal fast wie ein Heiliger verehrt. Mithilfe der Bergbauleute und deren technischen Anlagen wie beispielsweise einem wasserbetriebenen Schrägaufzug gelang es vergleichsweise schnell, das für die Wetterstation nötige Baumaterial auf den Berg zu schaffen.

War man 1886 vor allem einmal an Temperatur-, Wind- und Feuchtigkeitsmessungen im Hochgebirge interessiert, dominiert heute die Klimaforschung und die Überwachung der chemischen Zusammensetzung der Atmosphäre. Die Aschenwolke in der Luft nach Ausbruch des Ätna im März dieses Jahres wird hier ebenso erfasst wie die radioaktive Belastung nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima.

Die Meteorologen waren es übrigens auch, die Steinwendtner und ihr Team auf die Idee einer Lesung am Sonnblick brachten. Am Rande einer Fernsehfrühschoppenaufzeichnung des ORF in Rauris vergangenes Jahr hat der Leiter der Zentralstelle für Meteorologie und Geodynamik (Zamg) für Salzburg und Oberösterreich, Bernd Niedermoser, der Literaturmanagerin den Vorschlag unterbreitet.

Zwei Senner

Fehlten nur noch zwei geländegängige Literaten, denen der Skianstieg auf den Sonnblick auch zuzutrauen ist. Und die waren von Brita Steinwendtner in Person ihrer langjährigen Wegbegleiter und Freunde Bodo Hell und Peter Gruber schnell gefunden.

Beide kennen und lieben die Bergwelt. Beide sind Senner, beide arbeiten über den Sommer auf Almen im Dachsteingebiet. Bodo Hell auf der Grafenbergalm, Peter Gruber auf der Wiesalm im Kemetgebirge ist sein Nachbar.

"Höllenschwärze braute sich zwischen Almen und Himmel zusammen, rückte näher und näher an die Almhöhen heran." Das Wetter als bestimmendes Element des kargen Lebens am Berg hat Peter Gruber als Thema mit auf den Sonnblick gebracht.

In mächtigen, wuchtigen Wortbildern entstehen in der wohlig warmen Stube des Zittelhauses die Unbilden eines sommerlichen Schneesturmes über dem Dachsteingebirge. Wo würde ein solcher Text besser passen als im tief verschneiten Hochgebirge? Vom Wetter lesen die zwei Senner auch in einer als Doppelconférence gehaltenen Erzählung für und zum Abschied "ihrer" Brita von den Rauriser Literaturtagen.

Die Handlung: eine Wanderung im Jahr August 2009 von Bodo Hell mit Brita Steinwendtner und Eheman Wolf von der Grafenbergalm zum Hirzberg, wo die beiden von Peter Gruber in Empfang genommen werden und mit diesem zur Wiesalm und über die Neubergalm nach Gröbming ins Ennstal zurückkehren.

"Nach nächtlichem Regen, bedeckter Himmel, die Weiden sowieso feucht, also Gummistiefeltag", startet Bodo Hell literarisch in diesen Wandertag. Wind und Wetter bleiben am Berg die bestimmende Kraft. Eine Nähe zum Himmel, die man sich in den Städten, wo die Natur höchstens noch als Hintergrund am Flachbildschirm im Wartezimmer eines Arztes flimmert, vielfach nur noch schwer vorstellen kann.

"Nebel umweht uns, die Kühle bedrängt uns, mahnt uns, nicht allzu lange hierzubleiben", die Übergabe der beiden Wandersleute von Senner zu Senner am Hirzberg fällt kürzer aus, als von allen Beteiligten gewünscht. Schließlich hätte man sich noch viel zu erzählen. Manches davon wurde heuer am Sonnblickgipfel nachgeholt.

Gleichwohl: Das Kopfweh mancher am Morgen nach der Literaturnacht am Zittelhaus ist wohl mehr der Höhe und der fehlenden Akklimatisation geschuldet denn dem Wein. Und mancher ist bei der Abfahrt durch den dichten Hangnebel froh, dass einige Ortskundige vorausfahren: Irgendwo da vorn in dem undurchdringlichen Weiß waren doch die Gletscherspalten? (Thomas Neuhold, Album, DER STANDARD, 7./8./9.4.2012)