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Szenen aus dem besetzten Sarajevo, Dezember 1992.

Foto: reuters / danilo krstanovic

Im Februar 1990 fand ich mich als Korrespondent der zwei Jahre zuvor gegründeten Tageszeitung DER STANDARD in Klagenfurt wieder. Ich war dort geboren und aufgewachsen, hatte bis zum 19. Lebensjahr dort gelebt und war dann zum Studium nach Wien gegangen, wo ich nach und nach Gefallen am Journalismus fand und schließlich ernsthaft in diesem Metier zu arbeiten begann. Ich wollte immer ein spannendes Leben führen, und wenn es das nicht sein konnte, so sollte es wenigstens abwechslungsreich sein. Das war auch der Grund, weshalb ich nach zwei Jahren in der Stammredaktion des STANDARD das Angebot des Herausgebers annahm und mit knapp 30 Jahren in meine Heimatstadt zurückging: In der Wiener Redaktion hatte ich mich zu langweilen begonnen, die Claims in den Abteilungen waren abgesteckt, und die meisten der Kollegen wachten eifersüchtig über ihre Schrebergärtlein, ängstlich darauf bedacht, dass ihnen kein anderer die sorgsam gezogenen Rabatten zertrample.

Ich war in der Wirtschaftsredaktion gelandet, aber nicht etwa, weil ich davon viel verstanden hätte: Meine Freunde hatten mich in dieses Ressort geholt, sie waren gestandene Wirtschaftsjournalisten, gutmütig und geduldig genug, mir zunächst die die Grundbegriffe und später die nötigen Kniffe des Geschäfts beizubringen. Mir war es anfangs sehr recht, denn so war wenigstens mein Anspruch auf Abwechslung erfüllt, weil ich beinahe täglich etwas Neues lernte oder erlebte. Dennoch war ich es nach zwei Jahren leid, Bilanzpressekonferenzen zu besuchen, über Umsätze, Gewinne und Pleiten zu berichten und Nachrichten über steigende oder fallende Börsenkurse einzukürzen. Als Korrespondent hätte ich mehr Freiheiten, könnte schreiben, worüber ich wollte und was mir wichtig schien, und außerdem lockte Kärnten, aus der Ferne betrachtet, doppelt und dreifach verführerisch: Ich würde mein Tennis verbessern, die Winter bis in den Mai hinein zum Skilaufen nützen und versuchen, den Herausgeber von der dringenden notwendigen publizistischen Pflege der Alpe-Adria-Region und hier im speziellen der Weinbaugebiete Friauls zu überzeugen. Die Warnungen meiner Freunde, ich würde mich zu Tode langweilen und keinen Platz für meine unnötigen Geschichten bekommen, schlug ich in den Wind.

Das erwies sich rasch als ebenso voreilig wie mein Selbstbild als nebenher korrespondierender Landjunker als Illusion. Nach elf in Wien verbrachten Jahren kannte ich mich zwar in den politischen Machtverhältnissen Kärntens noch leidlich aus, von den handelnden Personen der zweiten Reihe aber so gut wie niemanden mehr. Es war, als müsste ich durch ein Fenster von außen das lustige Treiben in meinem Haus betrachten, weil mein Schlüssel nicht sperrte und niemand mein Läuten hörte. Die wenigen wichtigen politischen Geschichten schrieb mir mein Kärntner Kollege, gut eingebettet in sein sorgfältig geknüpftes und gepflegtes Kontaktnetz, vor der Nase weg, während ich mich verbissen abmühte, meine alten Quellen wieder zum Sprudeln zu bringen und neue zu erschließen.

Natürlich versuchte ich, mich mit etwas Sport, Wirtschaft und Kultur schadlos zu halten und lernte dabei rasch eine Grundregel des Korrespondentendaseins kennen: Er bietet die besten Geschichten wie sauren Wein an, bekommt aber nur für solche ausreichend Platz, die der Erwartung entsprechen, welche die Redakteure der Zentrale an das Geschehen draußen an der Peripherie stellen. Das und mein allzu schleppendes, von allen Seiten misstrauisch beäugtes Wiedereintauchen in die Kärntner Verhältnisse ließen meine Unzufriedenheit rasant anwachsen, und als ich nach einigen Wochen innehielt, merkte ich, dass der Winter fast vorbei und ich beruflich keinen Schritt weiter war. Am allerschlimmsten: Ich war noch keinen Tag zu Skilaufen gekommen. Am erstbesten Wochenende packte ich die Skier und fuhr in die Berge.

Nach einer Abfahrt kam ich am Lift neben einem jungen Slowenen zu sitzen, der mir vom Aufbruch erzählte, welcher vor einem Jahr die nördlichste Teilrepublik Jugoslawiens erfasst hatte: Hunderttausende Demonstranten waren auf die Straße gegangen, um die Freilassung des Chefredakteurs der aufmüpfigen Studentenzeitung "mladina" zu erzwingen, der wegen eines kritischen Artikels über die jugoslawische Armee kurzerhand verhaftet worden war. Alles sei im Aufruhr, und seit dem kurzen Frühling der späten siebziger Jahre habe es keine auch nur annähernd so breite und von allen Bevölkerungsschichten getragene Bewegung gegeben, die nun, da die Berliner Mauer gefallen und der Eiserne Vorhang zerschnitten sei, auch für Jugoslawien Demokratie und freie Wahlen fordere. Nach Titos Tod habe sich ja im Grunde schon der Dammbruch angekündigt, und nun könnten die alten Generäle mit ihrer heruntergekommenen Armee einmal erleben, was ein Aufstand sei: Der slowenische Präsident Milan Kucan, ein Kommunist zwar, aber anständig, habe die Zahlungen der Teilrepublik an die Bundesregierung eingestellt und dränge auf Verhandlungen über die Neuordnung Jugoslawiens, und wenn sich die Herren in Belgrad lange blöd stellten, dann werde sich Slowenien eben selbständig machen, gute Nacht und auf Nimmerwiedersehen, Jugoslawien.

Zwei Tage später fuhr ich nach Ljubljana. Nach wenigen Stunden wusste ich, dass ich meine Geschichte gefunden hatte - eine, deren Verbreitung auf lange Zeit ohne Debatten, ob es dafür Platz geben müsse, sicher war. Unbeachtet von der westlichen Welt bereitete hier ein Land seine Souveränität vor, ohne sich schon darüber im klaren zu sein, wie weit diese führen sollte - strukturell jedenfalls hatten die Slowenen bis zur völligen Eigenstaatlichkeit und Abspaltung vorgebeugt: Ihr Parlament, das ja in der jugoslawischen Föderationverfassung von 1946 theoretisch mit völliger Eigenständigkeit ausgestattet war, die nur nicht praktiziert werden konnte, weil es der einzig zugelassenen Partei der Kommunisten als Zustimmungsautomat für die Beschlüsse des Zentralkommitees diente, erwachte mit der Einführung des Mehrparteiensystems erst zum Leben. Die erste Verfassung Jugoslawiens, die 1953, 1963 und 1974 erneuert wurde und in diesen Neuerung die Lockerung des streng zentralistisch-stalinistischen Systems auch staatsrechtlich vollzog, garantierte auf dem Papier von Beginn an das Selbstbestimmungsrecht der Nationen.

In der Praxis war dieses Recht jedoch mit dem Eintritt in die jugoslawische Föderation verbraucht. Nun beriefen sich die Slowenen wieder auf dieses Selbstbestimmungsrecht und reizten damit die Zentralisten in der jugoslawischen Bundesregierung bis aufs Blut: Ohne die Bundesverfassung zu verletzen, entzogen sich die Slowenen ihrer realen Wirkung. Sie setzten nur noch das um, was im Parlament beschlossen wurde - und teilten es der Bundesregierung durch ihren Vertreter im Präsidium mit. Die Anweisungen des jugoslawischen Staatspräsidiums waren plötzlich nichts anderes mehr als Anweisungen, konnte sich die Regierung der Republik Slowenien doch auf die Legitimation eines Parlaments berufen, das seit der Gründung der SFRJ in der Bundesverfassung verankert und - theoretisch - dem Bundesparlament gleichgestellt war. Ein vergleichbarer Instanzenzug wie zwischen dem österreichischen Bundesparlament und den Landesregierungen war nicht eingerichtet, weil Titos Genossen zu Recht annahmen, dass kein Parlament der Teilrepubliken es je wagen würde, gegen ihre Beschlüsse aufzumucken. Jetzt wagten sie es, zunächst in Ljubljana, dann in Zagreb, und für die kommunistischen Zentralisten brach die Götterdämmerung an.

Darüber und wie in Slowenien nach und nach auf allen Gebieten Parallelstrukturen zu denen des Bundes eingezogen wurden, berichtete ich in den nächsten Wochen und Monaten. Ich lernte die handelnden Personen kennen, die entschlossen waren, den großen Wurf zu wagen und daneben noch Zeit und Lust hatten, sich wie in einer erwachsenen Demokratie zu zanken und Koalitionen zu bilden oder wieder aufzulösen. Da war der Staatspräsident Milan Kucan, klein, bullig, zäh, ein ehemaliger Kommunist, der, abgebrüht und erprobt in langen Grabenkämpfen mit den Genossen im jugoslawischen Staatspräsidium, sofort erkannt hatte, wie weit sich hier ein historisches Fenster auftat. Da war der Ministerpräsident Lojze Peterle, ein hochgewachsener Christdemokrat mit der einschläfernden Stimme eines gelangweilten Dorfpfarrers, zäher Verhandler mit glänzenden Kontakten zur slowenischen Emigration in Übersee und zur katholischen Internationale. Da war Außenminister Dimitrij Rupel, ein unbekümmerter und polternder Haudrauf, damals bei den Liberalen, der im Ausland gut Wind für die slowenische Sache zu machen suchte und dabei von einem Fettnäpfchen ins andere trat.

Und da waren drei - damals noch - Freunde, die sich für die Belgrader Zentrale als zäheste und gerissenste Gegner erweisen sollten: Der ehemalige "mladina"-Redakteur Janez Jansa, als Verteidigungsminister Kommandant der Territorialarmee, die - im Gegensatz zur Bundesarmee - der slowenischen Regierung unterstand und noch zu Titos Zeiten als leichte Eingreiftruppe für den regionalen Partisanenkampf gegen potenzielle ausländische Aggressoren aufgestellt worden war. Trotz oder gerade wegen seiner Jugend - Jansa war damals knapp über 30 Jahre alt - war er einer der Kaltblütigsten und Rücksichtslosesten in der Regierung und, zumindest damals, das alter Ego seines bulligen Freundes Igor Bavcar, der als Innenminister die Polizei als ergänzende Kampftruppe aufgestellt hatte und in permanente Kämpfe mit Geheimdiensten jeglicher Provenienz verwickelt war. Als dritter im Bunde fungierte Jelko Kacin, später Informationsminister, ein eitler, hochintelligenter Kommunikationsspezialist und Meister der Manipulation. Sie alle schienen nur auf ihr Stichwort zu warten. Sie alle hatten ein festes Ziel vor Augen und waren bereit, dafür einen hohen Preis zu zahlen: Sie wollten einen slowenischen Staat. Wie eigenständig der sein sollte, wussten sie noch nicht.

Auch darüber und wie sie darum kämpften, über die Intrigen und Verhandlungen, die Drohungen und Versprechen, das Ringen um Kompromisse, das dutzendfache Scheitern der Verhandlungen und ihre Wiederaufnahme, über all die Winkelzüge, die kleinen Fortschritte in der Absetzbewegung von Belgrad und die verzweifelten Versuche, doch noch etwas Gemeinsames von dem grandiosen, mit soviel Blut errichteten Projekt des einheitlichen Jugoslawien von der griechischen Grenze bis hinauf zu den Karawanken zu retten, schrieb ich, ohne über die möglichen Konsequenzen der pathetischen Pläne nachzudenken. Schon bald hatte ich mit Gerhard Seifried einen Gefährten gefunden, den ich vom Studium in Wien flüchtig kannte und der jetzt für den ORF arbeitete: Gemeinsam fuhren wir in das Land wie Piraten, die auf Kaperfahrt gehen, und aus dem gemeinsamen Blick für die Dinge, dem Respekt vor der Arbeit des anderen sowie dem sicheren Wissen um seine Unbestechlichkeit entwickelte sich ein gegenseitiges Vertrauen, das uns beide mehrmals vor Schlimmerem bewahrte und das mit der Zeit zu einer großen Freundschaft wurde, die bis heute gehalten hat. Die Geschichten flogen uns zu, sie erzählten sich von selbst, und man musste nur aufmerksam zuhören und sie übersetzen, er in Bilder, ich in Worte. Am Anfang schien es, als wäre die Kluft zwischen diesen beiden Ausdrucksweisen gar nicht so groß, und in seltenen, glücklichen Fällen, schien sie überhaupt verschwunden.

Wenn wir mit den Menschen sprachen, staunten wir, wie sehr sie sich des Risikos bewusst waren, das ihre Regierung einging. Sie wussten, dass am Ende ein Krieg stehen konnte, in dem die hundertfach überlegene Bundesarmee die kümmerliche Territorialverteidigung hinwegfegen und dem Spuk ein Ende machen würde. Sie wussten, dass die, die sich heute großartig Präsident, Regierungschef und Minister nannten, schon morgen als Hochverräter vor ein Bundesgericht gestellt und um einen Kopf kürzer gemacht werden konnten. Viele fürchteten die radikale Lösung, und kaum einer hätte sie für das vage Versprechen einer nebulosen Eigenständigkeit in Kauf genommen. Wie ihre Politiker sprachen auch die Menschen auf der Straße von Kompromissen, die man schließen müsse, und davon, dass als vernünftigstes Staatsmodell für Jugoslawien wohl eines nach dem Vorbild der Benelux-Staaten versucht werden sollte - wenn es denn sein musste, mit gemeinsamer Währungs-, Außen- und Verteidigungspolitik. Aber innerhalb dieses losen Verbandes sollte jedes Land trachten, seine Vorstellungen eines demokratischen, marktwirtschaftlich orientierten Systems umzusetzen.

Die Stärke der slowenischen Regierung in den Verhandlungen mit Belgrad war, dass ihre Linie völlig den Erwartungen und Wünschen der Bevölkerung entsprach. Mit dem Phänomen, dass hier tatsächlich eine politische Vertretung als Sprachrohr des Volkes auftrat, wurden die Kommunisten, die das doch einst als Wesenszug ihrer Politik propagiert hatten, nicht fertig. Sie misstrauten den Slowenen, weil sie nicht begreifen konnten, dass ausgerechnet von diesen westlerischen Reaktionären aus dem Norden das Ideal ihrer Revolution, an und mit dem sie gescheitert waren, verwirklicht schien - und das für ein kümmerliches Linsengericht, das ihnen der Kapitalismus als Lohn für den Abfall von der reinen Lehre in Aussicht stellte? So dachten die Ideologen, so sprachen die Politiker, die Militärs aber sahen sich erst die Landkarten an, danach ihre Budgets, überlegten kurz, wer sie bezahlte, und wurden pragmatisch: Mochten die Politiker darüber streiten, wer wem Treue und Rechenschaft schuldig war, sie würden gegebenenfalls handeln und dafür sorgen, dass die Oligarchie bestehen blieb. 

Wie so oft waren es Bilder, Symbole, welche die überschrittenen Umkehrpunkte auf dem einmal eingeschlagenen Weg markierten. Im Juli 1990 lud die slowenische Regierung gemeinsam mit den höchsten Vertretern der katholischen Kirche zu einem Versöhnungstreffen an einen der finstersten Orte der slowenischen Geschichte. Im Kocevski Rog, dem Hornwald von Kocevje/Gottschee, hatten die kommunistischen Partisanen unmittelbar nach Kriegsende einen grausamen Schlußstrich unter die letzte Rechnung des Bürgerkrieges, der neben dem glorifizierten Befreiungskampf gegen den Faschismus zwischen Weißgardisten, Ustascha, Heimwehren und Kommunisten ausgefochten wurde, gezogen. Zu Zehntausenden trieben die Kommunisten ihre Landsleute in den Wald, erschossen sie und ließen die Leichen in den Karstgrotten verrotten.

45 Jahre nach Kriegsende rief nun Ex-Kommunist Kucan zur Versöhnung, und seine Landsleute folgten dem Aufruf. Neben Kucan hielt der slowenische Erzbischof Alojzij Sustar eine Rede, welche die Einheit des späteren slowenischen Staat begründete: Denn anders als Kroaten, Serben und Bosnier wagten die Slowenen den Blick in die Abgründe ihrer Geschichte und suchten denen beizustehen, die das Gesehene nicht ertragen konnten. Es war ein Zeichen, das alle verstanden, und das der schlaue Kucan, wie er versicherte, nicht nur aus naheliegenden taktischen Erwägungen gesetzt hatte, die gleichfalls legitim gewesen wären: Ein Neubeginn habe, so Kucans ehrliche Überzeugung, nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die Untaten der Vergangenheit benannt und eingestanden würden. Ein halbes Jahr später stimmten am 23. Dezember 1990 mehr als 90 Prozent der Slowenen für einen souveränen und unabhängigen Staat. Danach gab es kein Zurück mehr.

Ich denke oft darüber nach, ab welchem Zeitpunkt die Bilder, die ich sah, eine andere Geschichte zu erzählen begannen als die, die ich im Text festhielt. Möglicherweise war es ja von Beginn an so, und ich hatte es bloß nicht bemerkt, weil ich nur hören und sehen wollte, was ohnehin klar auf der Hand lag? Und warum begriff ich nicht, dass es Erzählungen gab, die im voraus auf Bilder verwiesen, die erst später kamen? In der Affäre Spegelj, beispielsweise: Schon im Jänner 1991 warf die Belgrader Bundesregierung dem kroatischen Verteidigungsminister Martin Spegelj vor, in großem Umfang Waffen und Massenvernichtungsmittel einzukaufen und ein Massaker an der serbischen Bevölkerung zu planen. Kommt uns das mittlerweile nicht sehr bekannt vor? Hier wurde ein Interventionsgrund geschaffen, das lag klar auf der Hand.. Aber ich übersah, dass die schamlose Evokation der Ustascha-Greuel des Zweiten Weltkrieges die Möglichkeit ihrer Wiederholung nicht ausschloss, sondern beschwor. Ich sah es nicht, weil ich nicht mit dem Möglichen, sondern nur mit dem Wahrscheinlichen rechnete. 

Im Mai 1991 trafen einander Roter Stern Belgrad und Dinamo Zagreb zum letzten Mal in Jugoslawien zum Fußballspiel in Zagreb. Die biederen Kroaten gewannen gegen die serbischen Ästheten mit 3:2, und nach dem Spiel rottete sich der kroatische Mob zusammen und zog, Ustascha-Lieder grölend, durch die Innenstadt. Serbische Fans waren erst gar nicht angereist. Im Frühling war ich in Knin gewesen, der uralten serbischen Enklave in Kroatien, wo es von Militär wimmelte und serbische Zivilverbände, bis an die Zähne bewaffnet, damit drohten, die Kroaten nach Zagreb zu treiben oder ins Meer zu werfen. In Slowenien weigerte sich die Territorialarmee, der Bundesarmee ihre Waffen abzuliefern, die Gerüchte um eine kurz bevorstehende militärische Intervention kamen und gingen in Tagesabständen. Ich sah die Brüche, welche die Geschichten durchzogen, aber ich weigerte mich, sie auszuleuchten.

Das änderte sich innerhalb weniger Stunden. Am 25. Juni 1991 ratifizierten Kroatien und Slowenien offiziell ihre Unabhängigkeit. Nach dem Staatsakt feierten die Menschen in Ljubljana bis in die frühen Morgenstunden und wir, Journalisten aus aller Herren Länder, feierten mit, glücklich und erleichtert, dass es nicht zum Schlimmsten gekommen war. Um drei Uhr früh wankten wir in Richtung Hotel, als wir neben Tromostje, der Dreierbrücke des Otto-Wagner-Schülers Joze Plecnik, mitten in der Stadt Soldaten der Territorialverteidigung erblickten, die mit einem schweren Maschinengewehr in Stellung gegangen waren. "Haut ab, die Serben kommen", rief uns der Kommandant zu, bleich und unwesentlich älter als die jungen Burschen, die er befehligte. Während in der Stadt noch auf die Unabhängigkeit getrunken wurde, riegelte die Territorialarmee bereits die Ausfallstraßen ab. Slowenien war im Krieg.

Gerhard schnappte sich einen Kameramann, wir sprangen in einen Wagen und gelangten auf Umwegen, von denen wir nicht wussten, ob sie bereits vermint waren, aus der Stadt und auf die Straße nach Vrhnika, wo die Panzergarnison der Bundesarmee stationiert war. Es war leicht, die ausgerückten Tanks zu finden: Wo sie vorbeigekommen waren, säumten plattgewalzte Autos und umgefahrene Ampeln den Weg, tiefe Kettenspuren auf dem Asphalt wiesen in Richtung Flughafen. Vereinzelt standen Menschen herum wie angefroren und weinten stumm. Wir arbeiteten wie betäubt, Gerhard filmte, ich schrieb, er machte seinen ersten Aufsager vor einem Trümmerhaufen, dann fuhren wir den Panzern hinterher und waren plötzlich mitten unter ihnen, der Kameramann Lenko, ein Slowene, drehte, was das Zeug hielt - die Geschichte erzählte sich von selbst, in beiden Sprachen.

Vom nächsten Tag ist mir vor allem eine unglaubliche Stille in Erinnerung. Die Telefonleitungen aus dem Hotel nach Österreich - es war die Vor-Handy-Zeit - waren nicht unterbrochen, und in einem Bunker unter dem Kulturzentrum Cankarjev Dom hatte die slowenische Regierung ein provisorisches Presse- und Informationszentrum eingerichtet, in dem Informationsminister Kacin in den nächsten Wochen alle Register seines Talents ziehen sollte. Die Straßen waren menschenleer, abgesehen von den Patrouillen der Territorialverteidigung, die Menschen blieben in ihren Wohnungen und Häusern. Am späten Nachmittag dann das Geräusch einer Detonation, kurz und scharf, danach etwas wie ein Echo, Stille. Die Nachricht von irgendwoher, die Slowenen hätten einen Armeehubschrauber abgeschossen, er sei über dem naheliegenden Villenviertel abgestürzt. Nach einigem Suchen stießen wir auf das Wrack.

Es lag in einer dieser tiefen Gassen, die wie zufällig die alten, gepflegten Gärten durchschneiden, welche die Häuser umgeben - Herrschaftshäuser, Herrschaftsbesitz. Die Straße war von abgerissenen Zweigen und Blättern übersät, kein Laut zu hören, keine entfernte Sonntagsnachmittagsmusik oder Sportübertragung, kein Partygeräuch, kein Hundebellen, kein Vogelgezwitscher, nichts. Völlige Stille. Dann hörten wir ein Knistern weiter unten am Ende der Trümmerstrecke, die sich über die Strasse hinzog, dort wo die Pilotenkanzel aufgeschlagen war. Zwei Sitze auf verbogenen Kufen glosten vor sich hin, unter dem formlosen Klumpen, der das Cockpit gewesen war, verschmorten Kunststoff- und Metallteile. Nicht weit davon lagen die Körper der beiden Piloten, die Gliedmaßen bizarr verrenkt und unversehrt wie ihre Torsi, abgesehen davon, dass die versengte Haut teilweise in Fetzen herunterhing und kaum von den Uniformresten zu unterscheiden war. Über die ganze Straße verstreut lagen Brotlaibe, goldenes Weißbrot, nicht einmal angesengt, wie frisch vom Frühstückstisch gefallen. Das Bild: Brot auf der Straße, zwei tote Jungen, ein ausgebrannter Helikopter.

Aber welche Geschichte? Zwei Soldaten bekommen eine halbe Stunde zuvor den Befehl, mit dem Hubschrauber loszufliegen. Zwei, vor denen das Leben liegt, gerade 20 Jahre alt, zu Hause haben sie Eltern, Geschwister, Freunde, Freundinnen. Ein Jahr noch in der Armee, dann beginnt das Leben erst wirklich, zwölf Monate noch im Bau, dann hinaus auf das weite, sonnenbeschienene Feld. Jetzt schnallen sie sich an, maulen über ihren Befehl. Sie sollen das Brot hinüber zur Panzerkolonne fliegen, die am Vortag aufgebrochen ist und ohne Widerstand die österreichische Grenze erreicht hat. Führen Krieg und nehmen keine Jause mit, scherzt der Pilot, als er den Rotor anwirft. Der andere hat den Brotsack hinter den Sitzen verstaut, schnallt sich an, mach schnell, wir wollen bei Einbruch der Dunkelheit zurück sein, ich hab keine Lust, die Nacht am Loibl zu verbringen. Sie starten, fliegen tief über Ljubljana hinweg, sie haben ja nichts zu fürchten. Zehn Minuten später sind sie tot.

An diesem Nachmittag begann ich zu begreifen, dass es nicht genügt, zu beschreiben, was man sieht, wenn man der Wahrheit nahe genug kommen will, um das Gesehene erträglich zu machen. Mir wurde klar, dass Bilder nicht von selbst sprechen, dass sich die Geschichte nicht von selbst schreibt und Bilder keine selbstverständliche Geschichten erzählen. Es genügt nicht, eine journalistisch korrekte Beziehung zwischen den Bildern und ihrer Geschichte herzustellen, weil die jorurnalistisch korrekte Recherche, die auf die Möglichkeit einer Rekonstruktion der Wahrheit des Geschehens abzielt, von naiven und falschen Voraussetzungen ausgeht: Anders als im friedlichen Alltag, in dem wir uns mit den Lügen und Betrügereien abgefunden haben, die wir zu unserem Vorteil einsetzen, erwarten wir, dass im Krieg nicht gelogen wird, dass die Feinde kenntlich gemacht werden, dass sich jeder an seine Rolle hält, Gut und Böse, einmal festgelegt, nicht die Plätze tauschen und vor allem, dass nicht getäuscht und betrogen wird. Wir werden von unserer Vorstellung zum Narren gehalten, der Krieg müsse nach festen, überprüfbaren Regeln wie ein sportlicher Wettkampf geführt werden, nach Regeln, deren Verletzung automatisch Sanktionen nach sich führt - sei es durch eine Kraft von außen, sei es durch eine innere, unumstößliche und feste Gesetzmäßigkeit, die wir ebenfalls unterstellen und die es nicht gibt - nämlich unseren Wunsch, dass der oder das "Gute" letztendlich den Sieg davon tragen soll.

Vermutlich neigen wir zu solchen moralischen Haltungen, weil die meisten von uns - gottlob - keine praktischen Erfahrungen mit dem Krieg haben und diesbezüglich auf kulturelle Überlieferungen, Filme und Erzählungen, angewiesen sind. Und wir neigen dazu, die Wirkung solcher Überlieferungen zu über- oder unterschätzen, indem wir sie als selbstreferentiell bertrachten. Möglicherweise ist das auf die Eigendynamik zurückzuführen, die moderne Kommunikationstechnologien entwickeln - besonders, wenn sie im Grunde zum einfachen Zweck der Dokumentation eingesetzt werden, die für die Herstellung wie immer befrachteter Analogien nicht geeignet scheinen.

Dennoch lässt gerade die scheinbar so unbestechliche und saubere Dokumentation jede darüber hinausgehende Deutung zu: Das Bild des nackten halbwüchsigen Mädchens, das geschockt dem Napalm-Bombardement seines Dorfes entkommen ist und sich nun in Sicherheit zu bringen versucht, hält im Grunde nur eine der vielen Grausamkeiten des Vietnamkrieges fest, ebenso das Foto, auf dem der Polizeichef von Saigon, Generals Nguyen Ngoc Loan einen gefangenen und an den Händen gefesselten Vietkong in den Kopf schießt. Ihre immanente, individuelle Wahrheit, die archaische Grausamkeit des Krieges, die den Menschen immer schon geläufig war, ohne sie am Kriegführen zu hindern, wird von der Rezeptionsgeschichte überlagert: Beide Bilder entwickelten sehr rasch nach ihrer Veröffentlichungen eine grundsätzliche politische Botschaft, die sich sehr gut in den Protest der Kriegsgegner gegen die Militärpräsenz der USA in Vietnam einfügte. Beide Bilder wurden benutzt, um die Sinnlosigkeit des Krieges im allgemeinen, besonders aber dieses speziellen Krieges, anzuprangern. Das ist besonders in diesem Fall nichts Ehrenrühriges, kann doch die Absicht, die Öffentlichkeit grundsätzlich gegen den Krieg und seine Bestialitäten einzunehmen, nie falsch sein.

Dennoch haftet der Rezeptionsgeschichte des Fotos ein unangenehmer Zug an, der nichts mit den hehren Absichten der Leute zu tun hat, die sie in ihre Richtung entwickelt und für ihre moralisch zweifellos untadelige Haltung eingesetzt haben. Denn sie blendet etwas aus, das unabhängig davon als kontextuelle Wahrhaftigkeit bezeichnet werden kann, die der Berichterstatter beizubringen hat. Die junge Vietnamesin, die den Napalmangriff überlebte, hatte eine jüngere Schwester, die darin ums Leben kam und eine Familie, die das Trauma dieses Tages für immer zerstörte. Das Mädchen gelangte, nicht zuletzt durch die finanziellen Zuwendungen einer auch von solchen Bildern aufgerüttelten amerikanischen Öffentlichkeit, in die USA, wo es durch eine gezielte ärztliche Behandlung so weit wiederhergestellt wurde, dass ihr ein halbwegs menschenwürdiges Leben ermöglicht wurde. Heute lebt die Frau in den USA. Sie hat den US-Piloten, der den Angriff gegen das Dorf flog, kennengelernt und ihm, wie sie behauptet, verziehen. Der Pilot kam über das Geschehene nie hinweg, nach seinem Ausscheiden aus der Armee wurde er zum Trinker und lebt heute, nach einigen Entziehungskuren, als Pfarrer einer Methodistengemeinde irgendwo im Mittelwesten.

Den Killer von Saigon beschreibt die italienische Journalistin Oriana Fallaci als musischen, wohlerzogenen Mann, den sie während des Vietnamkrieges zweimal interviewt hat - einmal auf dem Höhepunkt seiner Macht, das zweites Mal, als der Sieg des Vietcong bereits feststand und der General, mittlerweile schwer krank, in einem französischen Militärhospital Zuflucht gefunden hatte. Es ist nicht sehr verwunderlich, dass Fallaci zwei völlig unterschiedliche Begegnungen schildert. Bei der ersten traf sie einen Mann an, der sein Charisma oder was er dafür hielt, aus seiner täglich und uneingeschränkt geübten Gewalt bezog. Beim zweiten Mal traf sie ein wimmerndes und weinendes Menschlein vor, das ihr weiszumachen versuchte, die Uniform stets gehasst zu haben und für den Beruf eines Soldaten oder Polizisten nicht geschaffen zu sein.

Auf Fallacis Frage, warum er den wehrlosen Gefangenen vor den Augen der ganzen Welt erschossen habe, gibt der General eine erschütternde Antwort: "Er trug keine Uniform. Einen Menschen, der schießt, ohne seine Uniform zu tragen, kann ich nicht respektieren. Das ist zu bequem: umbringen, ohne erkannt zu werden. Einen Nordvietnamesen respektiere ich, weil er ebenso wie ich als Soldat angezogen ist ist und darum ebensoviel riskiert wie ich. Aber einen Vietcong in Zivil ... da hat mich die Wut gepackt. Und der Zorn hat mich geblendet. Ich sagte mir, du Vietcong zahlst nicht den gleichen Preis wie ich für diese verhasste Uniform, du kannst dich verstecken ... Und so habe ich auf ihn geschossen."

Fallaci hat ihrem Tagebuch, in dem sie diese Szene beschreibt, den Titel "Niente e cosí sia" gegeben - "Nichts ist, wie es scheint". Das gilt für das Verhältnis zwischen Opfern und Tätern ebenso wie für die Rolle, die dem Berichterstatter zukommt und die nie eine des unbeteiligt Notierenden ist, so sehr er sich das auch wünschen mag. Je früher er begreift, dass er gerade durch seine vermeintlich exterritoriale Position selbst Teil des Geschehens ist, umso leichter widersteht er der Versuchung, die Grauzonen auszublenden und flache Schwarz-Weiß-Aufnahmen zu liefern. Den einzelnen Journalisten stellt die Erfahrung, dass auch sein Medium Teil des Krieges und seiner Instrumente ist, vor eine zugleich schwerwiegende und einfache Entscheidung: Entweder er belässt es bei der Beschreibung der Bilder, die sich ihm bieten, oder er versucht, sie zu entschlüsseln und in den Prozess ihrer Entstehung einzubetten.

Für beides gibt es bessere und schlechtere Gründe, für beide Zugänge gilt, dass sie nicht über neutrales Gebiet führen und unparteiisch bleiben können. Die Berichterstattung der Medien im Krieg ist keine Ausübung einer intellektuellen Funktion, und anders als die Intellektuellen, die aus guten oder schlechten Gründen zum Krieg schweigen können, hat sich der Berichterstatter zum Reden darüber verpflichtet. Für seine Tätigkeit gelten andere Zeiten als für die Reflexion, was zur Folge hat, dass sein Tun im weitesten Sinn unreflektiert geschieht. Das führt mittelbar zur schmerzhaften Erkenntnis, genau das nicht liefern zu können, was von ihm irrtümlicherweise erwartet wird: die Wahrheit des Geschehens. Im besten Fall kommt er Tatsachen auf die Spur, die je nach Bereitschaft der Handelnden verhüllt oder preisgegeben werden.

Den Hubschrauber, den die slowenische Territorialverteidigung am 27.Juni 1991 über Ljubljana abschoss, flogen zwei slowenische Piloten, die in der Bundesarmee ihren Dienst versahen. Den Brotsack, den sie mitführten, hatten sie in einer slowenischen Bäckerei aufgefüllt, weil die jugoslawischen Kommandanten ihrer Truppe, die zehn Tage festliegen sollte, zu wenig Proviant mitgegeben hatte. Schließlich lautete der Tagesbefehl, die Staatsgrenzen und die slowenischen Landleute gegen eine NATO-Invasion zu schützen. Mit dem Abschuss signalisierte die Territorialarmee dem Gegner, dass sie sehr wohl über eine aktive Flugabwehr verfügte und ihn als Angreifer, nicht als Befreier definierte. Das Brot auf der Straße war vom gemeinsamen Tisch gefallen, und die Familienmitglieder, die sich jahrzehntelang friedlich um ihn versammelt hatten, gingen nun mit tödlichem Hass aufeinander los. (Samo Kobenter, daStandard.at, 6.4.2012)