Gegen die "Ignoranz der Leute": Der bosnisch-serbische Künstler Radenko Milak malte eines der berühmtesten Fotos aus dem bosnischen Krieg 24-mal ab.

Foto: Adelheid Wölfl

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Das Originalbild: Arkans "Tiger" treten aus Zivilisten ein

Foto: AP/Ron Haviv

"Mein Vater hat damals gesagt: Pass auf deine Mutter und auf deine Schwester auf", erinnert sich Omer Nargalić. "Er hatte keine Angst, er war ein guter Boxer", sagt der Mann in dem rot-weiß-gestreiften T-Shirt mit den mächtigen Oberarmen. Omer Nargalić ist selbst Boxer geworden. Damals am 3. April 1992 war er 13 Jahre alt, als er seinen Vater das letzte Mal gesehen hat. Herr Nargalić kommt jedes Jahr in seine Heimatstadt Bijeljina, um das Grab des Vaters, der 1978 jugoslawischer Champion war, zu besuchen. "Ich will wissen wer ihn getötet hat."

Nicht viele wollen das in Bijeljina. In der Stadt im letzten Eck von Bosnien-Herzegowina, ganz nahe an der Grenze zu Serbien, begann der Krieg. Und nicht nur der Krieg, hier fand auch das erste Kriegsverbrechen statt, noch vor dem 6. April, dem Tag als die Europäische Gemeinschaft den Staat Bosnien-Herzegowina anerkannte. Der Vorkrieg hatte ohnehin schon längst begonnen. Eine Handgranate war im Café Istanbul, das von Muslimen besucht wurde, explodiert, eine andere sollte ins Café Srbija geworfen werden. Es kam zu Schießereien zwischen nationalistischen Serben und nationalistischen Bosniaken.

Serben hielten Referendum ab

Alle Seiten hatten Waffen gesammelt. Die bosnischen Serben hatten bereits am 9. November 1991 ein Referendum abgehalten, dass sie im jugoslawischen Staatsverband bleiben wollten. Sie wollten keinesfalls die Minderheit in einem unabhängigen Bosnien-Herzegowina sein und überstimmt werden. Zudem die massive Propaganda, dass "muslimische Extremisten" einen "Genozid an den Serben" ausführen wollten, zu greifen. Nachdem sich Präsident Alija Izetbegović am 31. Dezember für ein unabhängiges Bosnien-Herzegowina ausgesprochen hatte, sagte Serben-Führer Radovan Karadžić am folgenden Tag: "Wir werden unsere Tiger loslassen und sie ihren Job machen lassen... wir sollten sie nicht zurückhalten."

Am 9. Jänner 1992 riefen die bosnischen Serben die "Republik des serbischen Volkes von Bosnien-Herzegowina" als Teil Jugoslawiens aus. Den Nationalisten ging es nicht mehr um den Erhalt Jugoslawiens, sondern um die Schaffung von "Großserbien". Im Februar sagte der Parlamentssprecher der "Serbenrepublik" Momčilo Krajišnik: "Wir haben die Möglichkeit das serbische Volk in Bosnien-Herzegowina zu erhalten und es Teil eines serbischen Reichs werden zu lassen." Derweil bereiteten sich die Bosniaken und die bosnischen Kroaten auf die Unabhängigkeit vor. Am 1. März wurde ein Referendum abgehalten, das die bosnischen Serben boykottierten. 99,4 Prozent stimmten für die Souveränität. Am nächsten Tag trat Bosnien-Herzegowina aus den Staatenverband Jugoslawien aus. Da war Arkan, der Kriminelle Željko Ražnatović, der aus zahlreichen Gefängnissen in Westeuropa ausgebrochen war und bereits in Kroatien brutalste Kriegsverbrechen begangen hatte, mit seinen "Tigern" bereits in Bijeljina.

Test für den Krieg

"Bijeljina, das war der Test für den Krieg", sagt Jusuf Trbić, ein ehemaliger Journalist, der heute als einziger Abgeordneter für die größte bosniakische Partei SDA im Regionalparlament sitzt. Trbić wurde von "Arkans Tigern" "abgeholt". Mit dabei war der lokale Führer der Serbischen Radikalen Partei, Mirko Blagojević, der heute unbescholten als Anwalt in Bijeljina arbeitet. Trbić wurde eine Nacht lang gefoltert. "Mein Körper hatte die Farbe von diesem Pullover", sagt Trbić und zeigt auf einen Mann in violettem Oberteil.

Andere überlebten die Nacht im "Krisenstab" nicht. An die fünfzig Leichen, alles Zivilisten, sollen in dem Keller der Familie Šabanović gefunden worden sein. Darunter der Boxer, Salko Nargalić. Arkans Leute töteten aber nicht nur einflussreiche Bosniaken, sie ließen die Muslime wissen, dass niemand mehr sicher ist. Auf den berühmten Fotos des amerikanischen Fotografen Ron Haviv, der auf "Einladung" Arkans in Bijeljina war, ist Hamijeta Pajaziti zu sehen, wie sie ihrem Mann Abdirami helfen will, der von den "Tigern" erschossen wurde. Kurze Zeit später liegt sie selbst getötet auf der Straße, neben ihr die Bosniakin Tifa Šabanović. Wenig später fotografierte Haviv die "Tiger", wie sie in der gegenüberliegenden Moschee ihre Hände zum Victory-Zeichen erhoben. Arkan behauptete später, die Zivilisten auf dem Foto seien von muslimischen Extremisten ermordet worden und eigentlich Serben. Eine Lüge, die auch heute noch in Bijeljina ihre Anhänger hat.

Plavšić lobte Arkan

Am nächsten Tag, den 4. April als die damalige Präsidentin der selbsternannten Serbenrepublik, Biljana Plavšić in die Stadt kam, lobte sie Arkan dafür, dass er Bijeljina "befreit" hatte und umarmte den Schwerverbrecher. Wie viele Menschen in diesen ersten Apriltagen in Bijeljina getötet wurden, weiß keiner. Laut den Dokumenten des Haager Tribunals waren es mindestens 48. Auch zwanzig Jahre nach dem Krieg hat die Staatsanwaltschaft vor Ort keine Anklage erhoben. "Solange es keine juristische Aufarbeitung gibt, gibt es keine konkreten Zahlen", sagt Aleksandra Letić vom Helsinki Komitee in der Stadt. "Die Staatsanwaltschaft hat nicht genügend getan."

In Bijeljina weiß man nicht einmal wo die Ermordeten, die auf dem weltberühmten Foto zu sehen sind, begraben liegen. Der bosnisch-serbische Künstler Radenko Milak hat das Foto 24 Mal abgemalt. Ihn interessieren vor allem die beiden Arkan-Soldaten die links im Bild stehen. "Die schauen weg. Sie sind eine Metapher für die Ignoranz der Leute, die die Fakten nicht sehen wollen." Milak hat seine Bilder auch in der Hauptstadt heutigen Republika Srpska, in Banja Luka ausgestellt. "Die Leuten habe nicht reagiert."

Blumenkränze vor dem "Verteidigungsdenkmal"

Bijeljina ist heute eine freundliche kleine Stadt mit vielen blühenden Obstbäumen. Stärkste Partei ist die SDS des früheren Parteichefs Karadžić. Ein Arbeitsloser läuft herum und verkauft Bücher, in denen der Genozid an den Bosniaken geleugnet wird. Auf dem Hauptplatz vor dem "Verteidigungsdenkmal" liegen frische Blumenkränze. Auf den Parkbänken sitzen ein paar 17-Jährige. Was passiert ist vor zwanzig Jahren? "Wir haben keinen Geschichtsunterricht in der Schule", sagt ein blondes Mädchen. 30 Prozent der Bevölkerung waren hier vor dem Krieg Bosniaken, heute sind es etwa zehn Prozent.

Der Präsident der Islamischen Gemeinschaft in der Stadt, der Journalist Emir Musli sagt, dass er Serben kennt, die Mitgefühl mit den vertriebenen und ermordeten Muslimen haben. Er sagt, dass es möglich ist in Bijeljina zusammen zu leben. Seine Söhne gehen hier in die Schule. Die meisten ihrer Freunde sind Serben. Emir Musli sagt, dass auch Serben Opfer waren, auch Opfer der Propaganda. Und er ist fest überzeugt, dass die Wahrheit ans Licht kommen wird, die Mörder verurteilt werden, Gerechtigkeit hergestellt wird.

Omer Nargalić lebt mit seiner Frau und seinem Sohn, den er nach seinem Vater Salko nannte, in Sarajevo. Er hat sein Haus hier in Bijeljina verkauft.In vielen Häusern der Bosniaken leben heute Serben, in anderen Teilen des Landes, ist es umgekehrt. "Wir haben uns ausgetauscht", sagt Nargalić. Er sagt, dass er mit Serben gemeinsam in einem Staat leben will. "Aber wie kann ich zurückgehen, wenn mein Sohn hier in der Schule lernt, dass sein Vater ein Terrorist war?" (DER STANDARD, 7./8./9.4.2012)