11.541 rote Stühle wurden am Freitag in Sarajevo aufgestellt. Sie sollten an die Opfer der Belagerung erinnern.

Foto branimir prijak http://www.branaprejak.com/

Das wohl bedeutendste Gedicht des 20. Jahrhunderts, "Das öde Land" von T. S. Eliot, beginnt mit dem folgenden Vers: "April ist der übelste Monat von allen." Diese Worte klingen nirgendwo so buchstäblich richtig wie in Sarajevo. Es war April 1992, als die Belagerung Sarajevos begann, die fast vier Jahre lang dauerte und mehr als zehn tausend Menschen das Leben kostete.

Es ist schwer zu sagen, an welchem Tag genau die Belagerung begann, aber die Bewohner von Sarajevo sprechen informell vom 6. April. Dieses Datum stellte schon früher einen Meilenstein in der Stadtgeschichte dar. Am 6. April 1945 hatten Titos Partisanen Sarajevo von den Nazis und den Ustascha befreit.

Die Belagerung Sarajevos zählt sicherlich zu den symbolischsten Ereignissen in der globalen Geschichte des letzten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts. Während nach dem Fall der Beliner Mauer Europa zunehmend zusammenrückte, während weltweit das Jahrzehnt der "Happy Nineties" ausgerufen wurde, lebte man in einer europäischen Hauptstadt fast wie im Mittelalter, zumindest im Hinblick auf einige Aspekte des Lebens. Zunächst mutet das Konzept einer Stadtbelagerung bereits mittelalterlich an; die Bewohner Sarajevos mussten sich fast vier Jahre lang daran gewöhnen, ohne Strom, Wasser und telefonische Verbindungen zu leben, eingeschlossen wie in einer Mausefalle, in Hunger und Angst, unablässig in Lebensgefahr.

Dennoch gibt es unter den Überlebenden der Belagerung auch solche, die sagen, dass dies die besten Jahre ihres Lebens waren, dass es eine Zeit war, in der man unter den Bewohnern Sarajevos eine echte Solidarität spüren konnte, in der die Dinge schwarz-weiß wirkten und in der man ganz einfach näher an der Wahrheit lebte.

Nach Beendigung der Belagerung trat Sarajevo den langen Weg der Genesung an. Die ersten Nachkriegsjahre, vor allem 1996 und 1997, waren voller Hoffnung. Es kann nur noch besser werden, schien es. Diese Stimmung erreichte in der Nacht vom 23. September 1997 vermutlich ihren Höhepunkt, in der Nacht, als U2 ein Konzert in Sarajevo gaben. Es war exakt an dem Tag, an dem Tag und Nacht gleich lang dauern. Bereits am nächsten Tag dauerte die Nacht länger als der Tag. Bereits am nächsten Tag schmolz der Optimismus dahin.

Jedes Jahr im April wird der Jahrestag des Beginns der Belagerung begangen. Heuer ist es ein "runder" Jahrestag, es ist der 20., und so gibt es diesmal mehr einschlägige "Veranstaltungen" als sonst. Dennoch ist es schwer, sich des Eindrucks zu erwehren, dass ein Großteil dieser "Erinnerungsakte" eher eine leere Hülle ist als ein echter Versuch, der Erfahrung der Belagerung tatsächlich zu gedenken.

Noch vor dem ersten Kriegsherbst, im September 1992, schrieb der Schriftsteller und Journalist Ivan Lovrenović die folgenden Worte nieder: "Sarajevo ist eine zutiefst unglückliche Stadt. Sie trägt ein großes Leid mit sich, verfügt aber nicht über die kollektive Energie, die notwendig ist, um das erhitzte Magma des Leids zum reinen Gold der Katharsis zu verdichten."

Auf den ersten Blick, und vor allem aus einer touristischen Perspektive, wirkt das heutige Sarajevo keineswegs wie eine unglückliche Stadt. Die Sonne scheint, die Stadt ist strahlend und bunt, die Straßen sind voll junger Menschen; Sarajevo wirkt wie eine normale mitteleuropäische Stadt, wobei aus europäischer Sicht alles unwahrscheinlich billig ist.

Zieht man eine Parallele, so haben auch die europäischen Städte, die im Zweiten Weltkrieg große Schäden erlitten hatten, Anfang der 60er Jahre keine Bilder von Krieg heraufbeschworen. Dennoch, wenn man der Geschichtsschreibung Glauben schenkt, handelte es sich damals nicht nur um einen trügerischen Eindruck. Auch die Atmosphäre soll damals tatsächlich friedlich gewesen sein, der Krieg ein weit zurückliegendes Ereignis in der Geschichte. Im heutigen Sarajevo ist das jedoch nicht der Fall. Sobald man an der dünnen glänzenden Kruste der alltäglichen Inerz kratzt, kommt das Schwefelaroma des Unfriedens zum Vorschein, was sogleich an den Krieg erinnert. Die Katharsis ist aus Gold, die Patrone aus Blei. (Muharem Bazdulj, daStandard.at, 10.4.2012)