Serhij Zhadan: Totalniy Futbol.

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Warschau I: Linke Symbolik hat keinen Kredit mehr.

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Warschau II: Auch das ist polnisches Stadionleben.

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Lwiw: Dicke an die Macht.

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Charkiw: Frühlingsgefühle.

Foto: Reinhard Krennhuber

Zum ersten Mal auf einem polnischen Fußballplatz - und es dauert nur etwas mehr als 20 Minuten, bis die Klischees in Realität übergehen. Aus für den ausländischen Beobachter nicht wirklich ersichtlichen Gründen (möglicherweise soll eine politische Manifestation beendet werden) stürmt eine Sondereinheit der Polizei, die klassische Schildkrötentaktik anwendend, in den Fanblock von Polonia Warszawa. In der folgenden Auseinandersetzung tragen die Anhänger einen raschen Sieg davon, die Männer mit den Schilden müssen einen schmählichen Rückzug antreten.

Rückblickend wirkt das Ganze wie eine surreale Einlage, ohne die der Nachmittag keine runde Sache gewesen wäre. Verblüfft nimmt man zur Kenntnis, wie unaufgeregt der Gewalteinbruch allenthalben aufgenommen wird. Auch die Familientribüne, auf der sich auffallend viele Kinder aufhalten, stimmt heiter-entschlossen in die Aufforderungen an die Uniformierten ein, doch bitte pronto eine Fliege zu machen. (Im Original fiel die Formulierung etwas deftiger aus.) Als wäre nichts passiert, überfiel danach wieder tiefer Friede das etwas abgelebte kleine Stadion im Warschauer Bezirk Żoliborz.

Der halbzeitliche Appetit war groß, die Schlangen vor den Bratwurstbuden entprechend lang. Und die Stimmung stieg noch, denn am Ende gewannen die "Czarne Koszule" (Schwarzhemden; nein, nicht, was man vielleicht denken könnte. Es geht wirklich nur um die Farbe der Trikots) gegen Śląsk Wrocław (sprich in etwa: Schlonsk Wrotswaw) 3:0. Die Einordnung der widerstreitenden Eindrücke fiel schwer.

Da kann "Totalniy Futbol" weiterhelfen. Die "polnisch-ukrainische Fußballreise", herausgegeben vom jungen ukrainischen Lyriker und Romancier Serhij Zhadan, lässt in acht Essays die ebensovielen Spielorte der bevorstehenden Europameisterschaft nähertreten. Und noch viel mehr. Die Geschichten der polnischen und ukrainischen AutorInnen handeln zwar zumindest immer auch vom Fußball, eigentlich aber mehr vom Leben. Im Mittelpunkt stehen Menschen, die manchmal auch Spieler oder Zuschauer sind. Um ihre Gefühle geht es, die auf dem Sportplatz in Zeiten widriger politischer Umstände Exil suchten und fanden. Um einen Ort relativer Freiheit und relativer Wahrheit. Um ein Spiel als emotionale Heimat.

Geschichte(n)

Das ist oft lehrreich. Man erfährt, dass der Fußballklub Lech Poznań nicht etwa nach einer Biermarke, sondern nach einem mythischen Rittersmann des Mittelalters benannt ist. Eine kleine Enttäuschung vielleicht, aber Aufklärung ist eben nicht immer lustig. Die passt wiederum gut zur Hauptstadt der Region Großpolen, deren Einwohnern von ihren Landsleuten das Hochhalten preußischer Tugenden nachgesagt wird - was gleichzeitig Bewunderung und Spott nach sich zieht. So wird etwa unterstellt, in Poznań bräche die Nachtruhe immer schon vor Einbruch der Nacht herein. Es gilt damit auch als Antipode (und fußballerisch gewendet: natürlicher Feind) Wrocławs.

Man bekommt eine Ahnung davon, warum Uniformierte als Organe der Obrigkeit wenig Sympathie genießen. Das Misstrauen ist ein Erbe aus den Jahrzehnten des aufoktroyierten realen Sozialismus, die auch dessen Symbolen jeglichen Kredit geraubt haben. Das bekommt auch die Exekutive im neuen Polen zu spüren, das gerade die längste demokratische Epoche seiner Geschichte erlebt. Fußballfans wiederum fanden sich in der Opposition zum System immer wieder in der ersten Reihe. Nicht zufällig fanden in der dunklen Zeit des Kriegsrechts (1981-1983) die härtesten Auseinandersetzungen mit der Miliz um das alte Stadion von WKS Śląsk (= Schlesien) statt, das mitten im Industriegebiet Wrocławs lag, dem ehemaligen Breslau, der "Niemandsstadt".

Dort, wo die Nazis länger die Reihen schlossen als in Berlin, fand nach dem Krieg ein vollständiger Bevölkerungsaustausch statt. Während die Deutschen Richtung Westen abtransportiert wurden, trafen aus der Gegenrichtung jene Menschen ein, die ihre Heimat in den nunmehr sowjetischen Territorien Ostpolens verloren hatten: "Hier kam jeder igendwo anders her, hier war jeder neu." Die Suche nach Identität war seither ein Leitmotiv des Lebens an diesem Ort, dessen Einwohner ein Faible für Untergründigkeit und Wiederständigkeit zu entwickeln begannen.

Noch heute spricht man hier Polnisch mit Lwówer Note. Lwów, als ukrainisches Lwiw in Kürze ebenfalls EM-geadelt. Das Lemberg aus austro-galizischer Epoche, eine weitere Schicht der zwiebeligen Existenz dieser Stadt, spielte in den formativen Jahren des polnischen Fußballs eine herausragende Rolle. Man kann es (gemeinsam mit Kraków) sogar als dessen Wiege bezeichnen, in einer Epoche, als ein polnischer Staat auf den Landkarten nicht existierte. Ja, die Geschichte hält einiges an Ironie bereit in einem Raum, in dem so oft Grenzen und Menschen einfach hin- und hergeschoben wurden.

Śląsk, der ehemalige Armeesportklub, heißt übrigens immer noch WKS, obwohl sich die Streitkräfte schon 1997 absentiert haben. "Wojskowy" wurde einfach durch "Wrocławski" substituiert - so blieb beim "Klub Sportowy" etwas gleich, während sich mittlerweile doch so viel anderes verändert hat.

Absurditäten

Paweł Huelles wunderbar betitelte Geschichte "Wie Herr Janek Legia Warschau besiegte" liefert ein weiteres Beispiel für die vielen Verschränkungen im Verhältnis der beiden Veranstalterländer zueinander. 1933 fand in der Freien Stadt Danzig ein sehr unwahrscheinliches Fußballspiel statt. Gedania, der Sportverein der Polen, traf auf die aus dem Heimatland angereiste jüdische Mannschaft von Makkabi Drohobycz. Die Nationalsozialisten agitierten zu diesem Zeitpunkt bereits gegen die Minderheit, wenige Jahre später wäre eine solche Begegnung undenkbar gewesen. Drohobycz, wo Bruno Schulz seine fantastisch-verrätselten Geschichten schrieb, liegt heute in der Ukraine. Seine jüdische Bevölkerung wurde nach dem Einmarsch der Deutschen ausgelöscht.

Herr Janek, dessen Vater an der Organisation des Spiels beteiligt war, stürmte nach dem Krieg für Lechia Gdánsk, ehe er sich für einen sicheren Job in der Werft entschied. Sein größter Moment als Sportler war zugleich auch eine geradezu existentialistische Lektion in Absurdität. Mit zwei Toren gegen den  Hauptstadtklub Legia rettete er seine Mannschaft vor dem Abstieg, in den Zeitungsberichten am nächsten Tag kam der Held jedoch nicht vor. Warum? Während Herrn Janeks Vater im Konzentrationslager zu Tode kam, hatte sein Onkel in der Wehrmacht dienen müssen - das reichte, um in der Volksrepublik Polen als unzuverlässig zu gelten und der offiziellen Nichtexistenz anheim zu fallen.

Humorvolleren Folgen der "(unbewussten) Liebe der Polen zum Absurden" widmet sich Natasza Goerke, die sich dabei in erster Linie mit jenen für die - vor Großereignissen wie einer EM besonders debattenrelevanten - Bautätigkeit im Land befasst. Fragen, die womöglich nie gestellt worden wären, werden hier beantwortet. Etwa, wie es zuging, dass die Anzahl der Löcher in polnischen Straßen von einem Jahr auf das nächste ohne Zutun von außen abnahm. Oder warum die Geruchsbelästigung auf den Bahnhöfen mit Überwachungskameras statt Klos bekämpft wird.

Fußball und Nation

Die Ukraine erscheint in "Totalny Futbol" als Land auf der Suche nach sich selbst. Die divergierenden Selbstverständnisse in der Gesellschaft werden etwa in dem von Natalka Snjadanko dargestellten Kampf um Denkmäler manifest. Oder wenn der eine Staatspräsident eine historische Persönlichkeit zum "Helden der Ukraine" adelt und der folgende diesen Ehrentitel für null und nichtig erklärt. (Stepan Bandera, der Mann um den es in diesem Fall geht, war Nationalist und Widerstandskämpfer - erst gegen die Polen, dann gegen die Sowjets. Seine Anhänger sollen in Lemberg Pogrome verübt haben. Eine rechtsgerichtete Fan-Gruppe von Karpaty Lwiw, das heuer wohl aus der ersten Liga absteigen wird, nennt sich in seinem Gedenken "Banderstadt Ultras".)

Noch wirkmächtiger werden die Antagonismen zwischen Regionen und Generationen aufgrund des Mangels von Symbolen mit integrativer Kraft. Das ist es, was den Stellenwert des Fußballs (aus dem man Politik eigentlich gerne irgendwie heraushalten würde, was aber dann doch nicht funktioniert) in diesem Land so speziell. Er ersetzt "offenbar sehr erfolgreich die nationale Idee. Ohne dass man sagen könnte, ob das nun gut oder schlecht ist", wie Serhij Zhadan im Vorwort schreibt. Vielleicht ist das auch der Grund für die manchmal beinahe rührende Zuneigung zu diesem Spiel, die aus den sehr persönlich gehaltenen Geschichten der ukrainischen Autoren spricht.

So, wenn Juri Andruchowytsch, vermutlich deren namhaftester, von der Vergötterung und anschließenden Menschwerdung seines Idols Walerij Lobanowskyj (den er zärtlich nur "Loban" nennt) erzählt. Jenem großen Trainer, der den Kiewer Dynamo 1975 mit mathematischer Gründlichkeit und harter Hand zur womöglich besten Mannschaft Europas gemacht hatte - nach dem Vorbild der Holländer ("Was sie ausstrahlten, war die Freiheit selbst") und ihrem Totalen Fußball, von dem sich auch der Titel des Buches herleitet.

Als Loban, inzwischen als Chef der sowjetischen Nationalmannschaft eingesetzt, ein Team auf Kiewer Basis formte, adoptierten es die Ukrainer insgeheim als ihr eigenes: "Was ist die sowjetische Nationalmannschaft? Dynamo Kiew, geschwächt durch ein paar Spieler anderer Klubs." Lobanowskyj selbst hätte eine solche Interpretation vermutlich gar nicht gefallen. Als Sowjetmensch und Parteimitglied verwirklichte er sich im Imperium. "Danach verlor für ihn alles seine Relevanz und Attraktivität." So zumindest interpretiert Andruchowytsch, am aktuellen Zustand des ukrainischen Fußballs verzweifelnd, den späteren Verfall Lobans, der nur 63 Jahre alt wurde.

Achmetow mit J

In der unabhängigen Ukraine traten die Oligarchen als funktionales Äquivalent die Nachfolge regionaler Parteigrößen und sowjetischer Industriekonglomerate an. Als Finanziers von Fußballklubs und Erschaffer so grandioser wie sündteuer Stadionwelten. Der Begriff wurde in seiner modernen Bedeutung in den USA geprägt, wo zu Beginn des letzten Jahrhunderts Big Men in Regionen mit schwacher öffentlicher Rechtsdurchsetzung ihre eigenen Regeln etablierten. Wie seine Vorläufer strebt auch die sehr schnell sehr reich gewordene ukrainische Variante nach Einfluss auf Politik und Medien.

Ganz zweifellos erfreuen sich ihre Hervorbringungen, die neuen, alle Stücke spielenden Arenen, großer Beliebtheit in der Bevölkerung, was aber gar nicht unbedingt unmittelbar mit Fußball zu tun haben muss. Sie gelten als Sehenswürdigkeit von "europäischem" Standard, wo man - bestens umsorgt - einen angenehmen Nachmittag zubringen kann. Zum Beispiel im Museum von Schachtar Donezk in der Donbas Arena. Das Stadion, so Zhadan, erfüllt in der urbanen Umgebung die "Funktion eines riesigen Wellnesscenters".

Den Magnaten selbst begegnet man mit einem gewissen Fatalismus, und vielleicht gibt es da und dort auch so etwas wie Stolz, wenn der eigene Oligarch sich als potenter herausstellt, als jener aus einer anderen Region. Schließlich liegt man ja sportlich miteinander im Clinch. Die Zustände im Oligarchen-Universum sind komplex, es gibt Anziehungs- und Abstoßungsverhältnisse. Oleksandr Jaroslawskyj etwa, der Besitzer von Metalist Charkiw, der Einfachheit halber auch "Achmetow mit J" genannt, pflegt ein gutes Verhältnis zum im Fußballgeschäft viel erfahreneren Kollegen aus Donezk. Beide gemeinsam wiederum bekämpfen die Gebrüder Surkis aus Kiew.

Doch all das ist nur Begleitmusik, nicht das Entscheidende. Am Ende also ein Glaubensbekenntnis: "Metalist ist nicht nur meine Mannschaft, weil ich Charkiwer bin, sondern auch, weil wir uns ähnlich sind. Ich lebe so, wie Metall spielt - ich gewinne bei den Starken und verliere bei den Schwachen" (Oleksandr Uschkalow, Verteidiger des ukrainischen Autorennationalteams). (Michael Robausch, derStandard.at, 23.4.2012)