Der österreichische Reisende Felix Kanitz (1829-1904) fertigte wertvolle Landkarten an - und diese Zeichnung, die ihn als Malaria- Erkrankten in den frühen 1870er-Jahren im östlichen Bulgarien zeigt.

Foto: Promitzer

Die damalige Reiseliteratur spiegelt die Tradition der "Balkan-Expertise" wider.

Auf seinen abenteuerlichen Wegen In den Schluchten des Balkan fragt Kara Ben Nemsi einen Einheimischen nach dem örtlichen Nachtwächter: "Der Gefragte trug einen riesigen Sarras (Säbel) an der Seite, einen fürchterlichen Knüppel in der Rechten, hatte um den Fes ein Tuch geschlungen, das vor Schmutz starrte, und ging barfuß." Nicht genug, dass er für seine Antwort Geld verlangt – es stellt sich auch noch heraus, dass er selbst der Nachtwächter ist ...

Kein schönes Bild, das Karl May von diesem Balkanbewohner zeichnet. Dabei war der begnadete Geschichtenerzähler zumindest vor Erscheinen dieses "Reiseromans" 1892 an keinem der von ihm so lebendig beschriebenen Schauplätze auf dem Balkan. Wie es dort aussah und zuging, hat er sich unter anderem aus der Reiseliteratur seiner Zeit angelesen.

Welches Bild des Balkans und seiner Bewohner vermittelte diese Literatur ihren Lesern? Eine Frage, die sich auch der Historiker Christian Promitzer vom Fachbereich Südosteuropäische Geschichte und Anthropologie an der Grazer Karl-Franzens-Universität in seiner Erforschung der " Balkan-Konstruktionen in österreichisch-ungarischen Reiseberichten zwischen 1840 und 1912" stellt. Mit elf ehemaligen Studierenden und Kolleginnen stellte er sich die Aufgabe, die österreichische Tradition der "Balkan-Expertise" kritisch zu hinterfragen.

Der "Balkan" als die damals sogenannte "Europäische Türkei" umfasste Serbien, Montenegro, Bulgarien und die noch bis 1913 unter osmanischer Herrschaft befindlichen Länder bzw. Regionen Albanien, Kosovo und Mazedonien. "Da die Habsburgermonarchie nach dem Ausschluss aus dem Deutschen Reichsverband 1866 keine eigenen Kolonien hatte, suchte man ein Spielfeld für die dennoch vorhandenen Großmachtinteressen und streckte die Fühler in Richtung Balkan aus", sagt Promitzer. Um die Balkan-Reiseliteratur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts richtig zu deuten, müsse man auch die wirtschaftlichen Interessen der Habsburger auf dem Balkan im Blick haben. So floss viel Geld in die Erschließung der unteren Donau als Handelsweg und in den Bau von Eisenbahnen und Fabriken.

"Fast alle Texte gehen davon aus, dass die Zivilisation erst in den Orient gebracht werden muss", erklärt der Historiker. Viele Berichte seien geprägt von einer Haltung jovialer Überlegenheit, die sich durchaus oft mit Sympathie für die exotisch-fremde Welt und ihre Bewohner verband. Gottfried Stransky etwa schreibt 1903 in seiner Reise durch Albanien und Makedonien: "Ein Saptieh (Gendarm), der es sich dort beim Frühtrunke bequem gemacht hatte, sah mich von ferne kommen, warf eiligst sein Gewehr über die Schulter, lief mir entgegen, begrüßte mich aber zu meinem Erstaunen schon von weitem wie einen alten Bekannten (... ). Trotzdem begann er mit erkünstelter Strenge ein eingehendes Verhör (... ) und lud mich schließlich ein, mit ihm in den Gemeindekotter zu gehen. Ich lud ihn dagegen ein, mit mir in die Branntweinschenke zu gehen. (... ) Wir tranken zusammen etliche Gläser Raki und schwuren uns ewige Freundschaft." Hinter der ironischen Schilderung zeigt sich ein weitverbreitetes Balkan-Klischee: die Unfähigkeit der Osmanen, ihre Provinzen zu verwalten und Reformen durchzusetzen.

Pest und Malaria

Ein häufig auftauchendes Stereotyp ist zudem jenes vom "schmutzigen Balkan", auf das auch Karl May gerne zurückgriff. In diesen Bereich fallen auch die Schutzmaßnahmen gegen die bis ins 19. Jahrhundert auf dem Balkan ausbrechenden Pestepidemien. Um ein Übergreifen auf die Monarchie zu verhindern, haben die Habsburger einen fast 2000 Kilometer langen "Pestkordon" eingerichtet. Auch die berühmte Reisende Ida Pfeiffer kommt damit während einer Schiffsreise auf der Donau in Berührung: "Ein hölzernes Geländer macht die Scheidewand zwischen den Gesunden und Jenen, welche aus einem Lande der Pest kommen (...). Wer diese Gränze überschreitet, darf nicht mehr zurück."

"In den vielen von Wissenschaftern verfassten Reiseberichten zeigten sich Stereotype eher versteckt hinter strategischen Mustern", sagt der Historiker. "Da stellten sich Experten die Frage, was wo auszubeuten wäre, wohin man die Zivilisation bringen könnte – und was der Nutzen für das eigene Land wäre." So fertigte der Balkanreisende Felix Philipp Kanitz, der auf einer seiner Reisen selbst an Malaria erkrankte, unter anderem Landkarten von Serbien und Bulgarien an – ein äußerst wertvolles Wissenskapital im 19. Jahrhundert. Der Wiener Geograf und Geologe Ferdinand Hochstetter bereiste die Türkei in den 1860er-Jahren, um die Bedingungen für eine Eisenbahntrasse von Wien nach Istanbul zu erkunden. Auch heute, nach dem Zerfall des "Ostblocks", tritt das offizielle Österreich wieder gerne mit seiner "Balkan-Expertise" in Erscheinung. Promitzer: "Man hebt die kulturelle Attraktivität dieser Region hervor, zugleich wird sie aber auch als Zielgebiet wirtschaftlicher Interessen definiert." (Doris Griesser, DER STANDARD, 11.4.2012)