STANDARD: Wie zählt man den Müll, der um die Erde kreist?
Flohrer: Es gibt einen amerikanischen Katalog, der Objekte ab rund zehn Zentimeter Größe in den tiefen und rund 70 Zentimeter in den hohen Erdumlaufbahnen verzeichnet. Werden diese zusammengenommen, weiß man von 17.000 Objekten. Andere Zahlen beruhen auf Berechnungsmodellen: Im Bereich von wenigen Zentimetern sind es 29.000, bei einer Größenordnung von einem Zentimeter 750.000, im Millimeterbereich reden wir über 160 Millionen Objekte. Übrigens sprechen wir Schrottexperten für das All von Raumfahrtrückständen.
STANDARD: Ändern sich diese Zahlen nicht ständig durch Kollisionen?
Flohrer: In einem mehr als 30 Jahre alten Paper der Nasa wurde bereits vorausgesagt, dass Kollisionen innerhalb der Schrott-Populationen zunehmen. Diese Wachstumskurve erinnert tatsächlich an Zerfallsprozesse mit exponentiellen Quoten. Selbst wenn wir keine neuen Raketenstarts mehr durchführen, kann die Müllansammlung in manchen Umlaufbahnen ständig anwachsen.
STANDARD: Woher kommt der ganze Müll – und woraus besteht er?
Flohrer: Der Schrott spiegelt wider, was wir hinaufschicken: hauptsächlich Aluminium und andere Metalle, Kohlefaserstrukturen und Halbleiterelektronik. Dabei ist es interessant, dass auch Objekte mit geringer Masse, aber großer Oberfläche – Folien etwa, die zehnmal leichter sind als Papier – gefährlich sein können. Zum einen wegen der hohen Geschwindigkeit, mit der sie sich bewegen, zum anderen weil ihre Bahnbewegung schwieriger vorherzusagen ist.
STANDARD: Ab welcher Größe ist Schrott gefährlich für Satelliten?
Flohrer: Ein Ingenieur würde sagen: "Kommt darauf an." Heißt gefährlich, dass der Satellit durch eine Kollision total zerstört wird, liegt die Größe bei wenigen Zentimetern. Millimeter-Objekte können gefährlich werden, wenn sie auf eine bestimmte Stelle – etwa einen elektrischen Leiter – treffen. Wenn Sie den Eigentümer des Satelliten fragen, wird er die Größe in diesem Fall geringer ansiedeln.
STANDARD: Welche Bedrohungsszenarien gibt es durch Müll im All?
Flohrer: Gefährdet werden in erster Linie nur Satelliten. Allerdings sind auch Sie und ich betroffen, wenn durch Kollisionen Systeme ausfallen: Navigation, Telekommunikation oder Wettervorhersagen. Letztendlich zählt dazu aber auch der Wiedereintritt von Satelliten. Man muss schon schauen, wenn große Objekte herunterkommen, dass wir darauf vorbereitet sind. Das klappt aber ganz gut.
STANDARD: Das Müllproblem im All ist doch eher ein ökonomisches. Kann hier überhaupt von Umweltzerstörung gesprochen werden?
Flohrer: Die Umwelt hört nach meinem Verständnis nicht an der Erdoberfläche auf. Zum Beispiel ist die Erdumlaufbahn eine einzigartige Ressource – ein Gut, das wir intensiv nutzen. Woanders hinlegen können wir sie nicht, aber wir verletzten oft das Prinzip der Nachhaltigkeit. Wenn wir Satelliten hinaufschicken, müssen wir Treibstoff mitnehmen. Dieser Vorrat muss dazu reichen, die Satelliten am Ende ihrer Lebenszeit zu entsorgen. Dadurch wird die Einsatzdauer verkürzt – insofern ist es auch ein ökonomisches Problem.
STANDARD: Was ist wichtiger: zu überwachen, wie sich der Müll bewegt, oder dessen Entsorgung?
Flohrer: Das Monitoring ist ein erster Schritt. Daneben gibt es aktive und passive Schutzmaßnahmen. Eine passive ist, Satelliten so auszurüsten, dass sie kleinen Kollisionen standhalten. Aktiv bedeutet, dass sie Ausweichmanöver durchführen, um Zusammenstößen zu entgehen. Letzteres muss schon häufig gemacht werden. Parallel dazu sollte man sich Gedanken über die Entfernung machen.
STANDARD: Wie funktioniert die Müllabfuhr im All?
Flohrer: Da sind wir leider noch ganz am Anfang. Eine Möglichkeit besteht darin, Satelliten nach 25 Jahren am Ende ihrer Betriebszeit mit speziellen Segeln zu bewegen. Man könnte aber auch Festbrennstoffmotoren anbringen, um sie beim kontrollierten Wiedereintritt in die Atmosphäre verglühen zu lassen. Satelliten, die schon oben sind, müssten damit aber erst ausgestattet werden. Wirtschaftlich sinnvoll wäre das nur mit einem Servicer durchführbar, der mehrere Satelliten bearbeitet.
STANDARD: Also haben wir mit der Atmosphäre ohnehin eine perfekte Müllverbrennungsanlage.
Flohrer: Ja, aber die Objekte aus den hohen geostationären Bahnen gelangen dort nicht mehr hin. Für sie gibt es Mülldeponien: Diese Objekte werden ungefähr 250 Kilometer weiter, in noch höhere Bahnen gebracht. Dort sind sie keine Gefahr mehr für Satelliten.
STANDARD: Wie sehen Strategien der Müllvermeidung fürs All aus?
Flohrer: Der Großteil des Mülls entstand durch Kollisionen – die müssen also vorrangig vermieden werden. Zum anderen gibt es bereits Regelungen, dass pro Start nicht mehr als ein Müllobjekt freigesetzt werden darf. Früher wurden Teile manchmal einfach abgesprengt, und dann waren sie weg. So einfach geht das nicht mehr. (Sascha Aumüller, DER STANDARD, 11.4.2012)
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Wissen: 4000 Raketen seit Gagarin
Am 12. April 1961 flog der Kosmonaut Juri Gagarin als erster Mensch ins All. Seither gab es weltweit rund 4000 Raketenstarts, bei denen jedes Mal Müll im All zurückgelassen wurde. Dessen Beobachtung wird immer wichtiger. Es gilt weitere Kollisionen zwischen Schrottteilen zu vermeiden, um diese besser kontrollieren zu können. Aktuell übernimmt die Aufgabe vorrangig das United States Space Surveillance Network. In Zukunft soll dies auch ein Überwachungssystem der europäischen Weltraumorganisation Esa – Space Situational Awareness (SSA) – leisten.
Am 12. April wird der Esa-Experte Tim Flohrer bei der u. a. vom Verkehrsministerium unterstützten Veranstaltung "Yuri's Night – Mensch im Kosmos" im Naturhistorischen Museum in Wien über Müll im All sprechen, dazu gibt es weitere Vorträge zu Gagarin und Meteoriten. Beginn: 18 Uhr. (saum)