Der Sicherheitsrat hat am vergangenen Donnerstag erneut eine Resolution erlassen, die dem Internationalen Strafgerichtshof (ICC) untersagt, Ermittlungen gegen Peacekeeper und anderes Personal in UNO-Einsätzen vorzunehmen, sofern sie Angehörige eines Staates sind, der das Statut des Gerichts^hofes nicht ratifiziert hat (wie beispielsweise die USA, Russland oder China).

Die USA als Einbringer der Resolution hätten dies gerne als routinemäßige Angelegenheit behandelt, doch die für diplomatische Verhältnisse fast schon wütenden Proteste der Unterzeichnerstaaten des Römer Statuts sprechen eine andere Sprache: Die Einmischung in den durch ihr Vertragswerk geschaffenen Gerichtshof sei ein Affront gegen das Völkerrecht.

Vernichtend ...

Als erstes permanentes internationales Strafgericht der Geschichte wird der ICC Einzelpersonen zur Verantwortung ziehen, denen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord vorgeworfen werden und die von den innerstaatlichen Gerichten nicht belangt werden, zum Beispiel weil die Verdächtigen zugleich auch die im Land herrschenden Tyrannen sind.

Die Vertragsstaaten wollten der unerträglichen Straflosigkeit der Pol Pots und Pinochets dieser Welt ein Ende setzen, basierend auf dem Vorbild der internationalen Ad- hoc-Gerichte, wie sie vom Sicherheitsrat für das frühere Jugoslawien und Ruanda eingesetzt worden sind. Wie kommt es, dass sich nun ausgerechnet der einstige Vorreiter der internationalen Strafgerichtsbarkeit gegen deren logische Weiterentwicklung sperrt?

Es kam so: UNO-Hauptquartier in New York im schwülen Frühsommer 2002. Während im Konferenzraum I die Diplomaten der ICC-Vertragsstaaten das Inkrafttreten des Römer Statuts per 1. Juli 2002 feiern, herrscht zwei Stockwerke darüber in der engen Beratungskammer des Sicherheitsrates Gewitterstimmung. Die USA hatten wenige Tage zuvor per Veto die Verlängerung der UN-Friedensmission in Bosnien-Herzegowina blockiert und gedroht, ihren Beitrag zum gesamten Peacekeeping-Budget (rd. 25 Prozent der rd. drei Mrd. US-Dollar) einzufrieren – wenn ihren Bürgern nicht Immunität vor dem ICC zugestanden wird. Denn die USA sehen den Gerichtshof in erster Linie als potenzielle Bühne für politische Schauprozesse, als Gefahr für die Souveränität und Handlungsfähigkeit der Weltmacht.

Nach zwei Wochen erbittert geführter Verhandlungen einigte sich der Rat auf einen Kompromiss: auf die Resolution 1422. Teil derselben war eine Klausel, die die Resolution nach zwölf Monaten auslaufen lässt – was dieser Tage neue Verhandlungen notwendig machte. Doch zermürbt von den endlosen Irak-Konfrontationen ließen sich die Mitglieder des Rates neuerlich darauf ein. Das Resultat: eine wortgleiche Resolution, die wieder für zwölf Monate Peacekeeper aus Nicht-Vertragsstaaten vor dem Zugriff des ICC schützen will.

Die Betonung liegt auf will. Denn mit dem unfreundlichen Akt des Sicherheitsrates ist das letzte Wort noch nicht gesprochen. Derzeit ist noch kein solcher Peacekeeper-Fall beim ICC anhängig, zumal dessen Chefankläger erst nächste Woche die Arbeit aufnehmen wird. Doch wenn es einmal so weit kommen sollte, werden Ankläger und Richter in Den Haag die Resolution einer rechtlichen Prüfung unterziehen müssen.

. ... aber nichtig

Was bedeutet es nun, wenn der Sicherheitsrat den Gerichtshof "ersucht", keine Ermittlungen einzuleiten? Kann der Sicherheitsrat dem ICC – einer von der UNO unabhängigen Institution mit 139 Unterzeichnerstaaten – überhaupt etwas vorschreiben? Etwa dann, wenn er sich mit Artikel 16 auf eine Bestimmung des ICC-Statuts stützt?

Nach dieser Bestimmung kann der Sicherheitsrat den ICC zwar ersuchen, Ermittlungen in einem konkreten Fall vorübergehend auszusetzen, um zum Beispiel Friedensverhandlungen zu ermöglichen – von einer Blanko-Immunität für eine unbestimmte Gruppe von Personen ist allerdings keine Rede.

Oder ist das Ersuchen des Sicherheitsrates deshalb ernst zu nehmen, weil er sich drohend auf Kapitel VII der UN- Charta stützt, das ihm Mittel zur Sicherung des Weltfriedens in die Hand legt?

Unter den vielen rechtlichen Fragwürdigkeiten der Resolution ist Letztere wohl die Unerträglichste. Um nach Kapitel VII der Charta tätig zu werden, muss der Sicherheitsrat nämlich zunächst feststellen, dass eine Bedrohung des Friedens oder eine Angriffshandlung vorliegt (Art. 39). Nur in einer solchen Situation sind die umfassenden Befugnisse des Sicherheitsrates gerechtfertigt, die sich üblicherweise zwischen den Polen Wirtschaftsembargo und militärischer Intervention bewegen. Diese Feststellung nimmt der Rat nach ständiger Praxis stets vor, wenn er nach Kapitel VII tätig wird. Diesmal aber wagte er es nicht, offen auszusprechen, worin die Angriffshandlung bestehen soll. Verständlich: ein internationaler Strafgerichtshof – besetzt mit Richterinnen und Richtern aus allen Regionen der Welt zur Verfolgung von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord – als Bedrohung für den Weltfrieden? Wie viel Absurdität lässt sich mittels Macht eigentlich noch als Recht verkaufen?

Dass der Sicherheitsrat damit seine Befugnisse nach der Charta überschritten hat, ist jedenfalls offensichtlich. Einziger Trost: Derartige Ultra-Vires-Akte sind nicht bindend, selbst wenn sie von höchster Stelle kommen. Für den Internationalen Strafgerichtshof ist die Resolution daher im Endeffekt ein rechtliches Nichts. Trotzdem ein höchst unerfreuliches. (DER STANDARD, Printausgabe, 18./19.6.2003)