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Veranstaltungstipp:
Am 20. und 21. 4. findet das 7. Internationale Still- und Laktationssymposium im Kleinen Festsaal des Palais Ferstel (1010, Freyung 2) statt. Eintritt: 110 Euro bzw. 135 Euro (zwei Tage).
Die Wissenschaft hat sie zu lange vernachlässigt: Humane Milch-Oligosacchariden, kurz HMO, kommen in einer erstaunlichen Vielfalt in der Muttermilch vor. Chemisch gesehen sind es Zuckerstoffe, Kohlenhydrate, mit unterschiedlichen Strukturen und Komponenten, doch sie dienen offensichtlich nicht der Energieversorgung, zumindest nicht in erster Linie. Bisher sind mehr als 150 verschiedene HMO-Varianten bekannt. Ihre tatsächliche Zahl könnte weit über 1000 liegen, schätzen Experten.
Muttermilch ist zudem auch mengenmäßig betrachtet sehr reich an Oligosacchariden. "Sie sind der dritthäufigste Bestandteil", erklärt der Ernährungswissenschafter und Biologe Lars Bode von der University of California in San Diego gegenüber dem Standard. Die Gesamt-HMO-Konzentration variiert von zehn bis 15 Gramm pro Liter. Im Kolostrum, in der besonders dickflüssigen Erstmilch, die das Kind kurz nach der Geburt bekommt, sind pro Liter sogar 20 bis 25 Gramm HMO enthalten. Zum Vergleich: Der Proteingehalt von Muttermilch beträgt etwa zwölf Gramm pro Liter. Wenn der weibliche Körper nach einer kräftezehrenden Schwangerschaft und der Geburt solche Mengen an Oligosacchariden zusätzlich zum normalen Milchzucker produziert, dann muss es dafür einen wichtig Grund geben, meint Lars Bode.
Schutzfunktion
Höchstwahrscheinlich dienen die komplexen Moleküle dem Schutz vor Krankheiten. Auf diesem Gebiet hat Bode zusammen mit einigen Kollegen eine erstaunliche Entdeckung gemacht. Sie gilt der Nekrotisierenden Enterokolitis (NEC), einer lebensbedrohlichen Darmentzündung, an der vor allem zu früh geborene, sehr leichte Säuglinge erkranken. Bei Geburtsgewichten von weniger als 1500 Gramm sind fünf bis acht Prozent der Frühchen betroffen. Ungefähr ein Viertel stirbt daran."Viele Studien zeigen, dass gestillte Kinder wesentlich weniger anfällig sind für NEC", betont Lars Bode. Statistisch gesehen liegt das Risiko einer NEC-Erkrankung bei künstlich ernährten Frühgeborenen sechsmal höher. Die genauen Ursachen dieses Effekts waren bislang genauso wenig klar wie die Entstehung der Entzündung. Bode und sein Team vermuteten allerdings schon länger, Oligosacchariden könnten eine Rolle spielen.
Die Forscher gingen der Sache bei einem Tierversuch auf den Grund. Sie nahmen zwei Gruppen gesunde Rattenjungen und fütterten diese entweder mit einem handelsüblichen Muttermilch-Ersatzpräparat oder einer Mischung mit echten, aus menschlicher Milch extrahierter HMO.Die Resultate zeigen: Die Oligosacchariden haben offenbar nicht nur bei Säuglingen, sondern auch bei Jungratten einen starken Schutzeffekt gegen Nekrotisierende Enterokolitis. Die nicht mit HMO versorgten Tiere erkrankten mehr als viermal so häufig daran als ihre mit Zusatz gefütterten Artgenossen. Bei weiteren Experimenten konnten die Wissenschafter sogar eine einzige Oligosaccharid-Variante, Disialyllacto-N-Tetraose (DSLNT), als mutmaßlichen Auslöser der Schutzwirkung identifizieren. Der physiologische Mechanismus ist jedoch noch unklar. Die detaillierten Ergebnisse erscheinen demnächst in der Fachzeitschrift Gut und werden am 20. April von Lars Bode im Rahmen des 7. Internationalen Still- und Laktationssymposiums in Wien im vorgestellt.
Wenn das Wirkungsprinzip von DSLNT enträtselt werden kann, dann lassen sich auch die Nekrotisierende Enterokolitis und ihre Ursachen besser bekämpfen, hoffen die Experten. " Wir wollen schließlich keine Ratten heilen, sondern Menschenleben retten" , sagt die österreichische Forscherin Evelyn Jantscher-Krenn, Erstautorin der neuen Studie. Erkenntnisse aus der Aids-Forschung bieten möglicherweise wertvolle Anhaltspunkte. Denn obwohl die Milch von HIV-infizierten Müttern reichlich Virenpartikel enthält, werden ihre Kinder meistens nicht mit dem Aids-Erreger infiziert. Vermutlich blockieren HMO die speziellen Rezeptoren, die HIV braucht, um in die sogenannten dendritischen Zellen einzudringen und sich von ihnen in den Körper schleusen zu lassen. Diese Blockadetaktik könnte auch bei der Wirkung von HMO gegen andere Keime eine zentrale Rolle spielen. Bei trinkenden Babys kommt Muttermilch bekanntlich überallhin, meint Lars Bode lachend. Vielleicht sei es also ganz gut, wenn auch die Nase regelmäßig damit gespült wird.
Doch warum greift der Schutzmechanismus nicht immer? "Nicht jede Mutter hat die gleichen Oligosaccharide", sagt Bode. Unterschiede im Angebot seien zum Teil genetisch verankert, aber auch vom Zeitpunkt abhängig. Im Verlauf der Stillperiode ändert sich die produzierte HMO-Palette. Das industrielle Anreichern von Muttermilch-Ersatz mit humanspezifischen Oligosacchariden dürfte indes aufgrund deren Vielfalt und komplexen Strukturen kaum möglich sein. Bode: "Da ist der Chemiker überfordert." (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 16.4.2012)