Als "Diaspora" verstand man seit biblischen Zeiten die "Zerstreuung" der Juden, später auch der Armenier, in fremde Länder. Angehörige einer Diaspora hielten weiter an ihrer kulturellen Identität fest und blieben mit anderswo verstreut lebenden Gruppen solidarisch in Kontakt.

In den vergangenen zwanzig Jahren hat der Begriff Diaspora in den Geisteswissenschaften "eine unglaubliche Karriere" gemacht, schreibt die Wiener Philosophin Isolde Charim in ihrem Sammelband über dieses " Lebensmodell". Heute sprechen manche von einer Diaspora von Afrikanern oder von Latinos in den USA, andere auch von schwuler oder lesbischer Diaspora. Um in dieser "Begriffsinflation" das Wesen der für die Globalisierung typischen, nomadischen Lebensform zu ergründen, kuratiert Charim seit 2007 im Wiener Bruno-Kreisky-Forum eine Veranstaltungsreihe. 24 Beiträge international renommierter Autorinnen und Autoren sind in diesem Band vereint.

Universelle Gleichheit

Der israelische Soziologe Natan Sznaider erinnert daran, dass mit der französischen Revolution die Staatsbürgerschaft als "universelle Gleichheit" gesehen wurde; der Preis dafür war die Assimilierung des Einzelnen.

Heute, so meint Charim, leben wir in Gesellschaften, "die kulturell, religiös, ethnisch so vielfältig sind", dass das Konzept der homogenen Nation erodiert. Postkoloniale Denker wie Homi K. Bhabha und seine wie er aus Indien stammende Kollegin Gayatri Spivak schreiben eher positiv über die "hybride kulturelle Erfahrung" von Menschen, die weit weg von jener Region leben, der sie sich zugehörig fühlen. Wie ein in London aufgewachsener "Englishman" mit pakistanischem "Hintergrund" dazu kommt, " sich der weltweiten Jihad-Bewegung" anzuschließen, ist auch für Bhabha schwer zu erklären.

Mehrere Autoren bemerken, dass im Gegenzug der klassische Diasporabegriff verschwindet, wie dies zum Beispiel Hanno Loewy für in den USA lebende Juden feststellt. Dafür wird in vielen Ländern der " Migrationshintergrund" zum neuen Stigma der Nichtzugehörigkeit. (Erhard Stackl, DER STANDARD, 16.4.2012)