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Der Überlebende Björn Ihler vor dem Gerichtssaal. Der 20-Jährige ist weiterhin politisch aktiv.

Foto: APA/EPA/Roald

Was er sich davon erwartet, sagte er Anne Rentzsch.

STANDARD: Knapp neun Monate sind seit dem Attentat vergangen. Wie geht es Ihnen heute?

Ihler: Normal weiterzuleben war schwer, zeitweise fast unmöglich. Aber ich habe dafür gekämpft, an den Träumen und Idealen festzuhalten, die ich vor dem Terrorattentat hatte. Familie und Freunde, aber auch Psychologen und Anwälte haben mir dabei enorm geholfen. Ganz wichtig war, dass ich im Rahmen meines Studiums in Liverpool für ein Praktikum an der Norwegischen Oper nach Oslo zurückkehren konnte. Jetzt muss ich darauf achten, diese Stabilität zu behalten und Dinge zu tun, die mir Freude machen - zu arbeiten und mit Freunden zusammenzusein.

STANDARD: Sie haben auf Utöya viele Freunde verloren. Gibt es jemanden, den Sie besonders vermissen?

Ihler: Am meisten fehlt mir Havar Vederhus, der Vorsitzender der sozialdemokratischen Jugendorganisation in Oslo war. Havar hat mich für die Politik gewonnen, als wir beide in Oslo ans Gymnasium gingen. Ich denke sehr oft an die Toten. Gleichzeitig versuche ich, Überlebenden und Hinterbliebenen so viel Aufmerksamkeit entgegenzubringen wie möglich. Zwischen uns, die wir überlebt haben, besteht ein enger Kontakt, nicht zuletzt über Facebook, wo wir einander auf dem Laufenden halten und uns in schwierigen Stunden Rat und Trost holen. Und mir liegt viel daran, gemeinsam mit anderen Überlebenden Dinge zu tun, die überhaupt nichts mit dem 22. Juli 2011 zu tun haben.

STANDARD: Sie sind dem Attentäter während einer Haftverhandlung wiederbegegnet. Wie war das?

Ihler: Es war ein Gefühl, als würde man in einer Achterbahn ganz nach oben gedrückt. Man denkt, man fällt ins Bodenlose. Aber nach der Verhandlung war der Druck weg, ich blieb einfach ruhig sitzen, ohne zu fallen. Das war eine Erleichterung.

STANDARD: Werden Sie den Prozess verfolgen?

Ihler: Ich möchte so viel wie möglich mitverfolgen. In den nächsten zehn Wochen werde ich wohl nahezu jeden Tag im Gericht sein.

STANDARD: Was erwarten Sie von der Verhandlung?

Ihler: Ich erwarte und hoffe, dass es unter den gegebenen Umständen ein so normaler Prozess wie möglich wird. Wir dürfen Breivik keine Macht geben, das norwegische Rechtssystem oder unsere demokratischen Prinzipien zu ändern.

STANDARD: Norwegen will im Schnellverfahren ein Gesetz einführen, das sicherstellt, dass Breivik nie wieder freikommt. Viele sind darüber erleichtert. Sie auch?

Ihler: Was Breivik getan hat, war furchtbar. Ich verstehe, dass sich viele ein solches Gesetz wünschen. Aber ich denke, die bestehenden Gesetze reichen aus, um mit ihm klarzukommen. Ich bin gegen solche übereilten Verfahren. Sie haben schlechte Gesetze zur Folge und vermitteln das Signal, dass Politiker das Rechtssystem je nach Bedarf ändern können.

STANDARD: Viele erinnern sich an die Bilder nach den Attentaten, die ein geeint trauerndes Land zeigten. Politiker mahnten zu Einigkeit und Versöhnung. Haben die furchtbaren Ereignisse Norwegen zum Besseren verändert?

Ihler: Ich glaube nicht, dass sich Norwegen so stark verändert hat, wie man das in den Tagen nach dem 22. Juli gehofft hatte. Damals redeten alle von mehr Demokratie, mehr Humanismus, mehr Offenheit. Aber schon kurz darauf begann eine Debatte über die Debatte - darüber, welche Meinungen akzeptabel sind und welche nicht. Insofern hat man sich vom Prinzip der Offenheit schon bald abgewandt. Gleichzeitig ist aber in Gesprächen deutlich zu merken, dass Demokratie, Humanismus und Offenheit in den Gedanken der meisten Norweger jetzt eine viel wichtigere Rolle spielen.

STANDARD: Ihr sozialdemokratischer Jugendverband verzeichnet, ebenso wie Jugendverbände anderer Parteien, nach den Anschlägen großen Mitgliedzustrom. Warum?

Ihler: Vielen ist durch die Attentate klar geworden, wie wichtig Politik ist und dass die Jugendverbände in Norwegen einiges bewegen können. Mehrere der neuen Mitglieder sind sehr aktiv und gestalten bewusst neue Politik mit.

STANDARD: Sind nach Utöya auch Jugendfunktionäre abgesprungen?

Ihler: So etwas habe ich nicht gehört. Aber wir achten jetzt mehr auf die Sicherheit junger Politiker.

STANDARD: Haben Sie sich durch das Erlebte verändert?

Ihler: Ich denke schon. Ich bin wohl ein bisschen stärker, mehr ich selbst geworden. Ich habe den Tod gesehen und verstanden, dass das Leben nicht ewig währt. Deshalb kann ich jetzt auch besser sehen, was wichtig ist, und mich auf meine Ziele konzentrieren. Ich möchte Filme machen, um Geschichten zu erzählen, am besten solche, die Menschen auf Dinge stoßen, an die sie vorher nicht gedacht haben. Auf diese Weise möchte ich Politik machen. Ich möchte meine Geschichte von Utöya erzählen. Das ist mir ganz wichtig. (Anne Rentzsch, DER STANDARD, 16.04.2012)