"Durch die Geschichte der USA", schreibt Adam Davidson in der Februar-Ausgabe des "Atlantic", "hatten die meisten Menschen fast immer einen sanften und stetigen Rückenwind, eine Kombination von wirtschaftlichen Kräften [...], die uns erlaubten, jedes Jahr ein bisschen mehr zu verdienen. Im Ganzen gesehen addierte sich das zu einem besseren Leben als dem, in das wir hineingeboren wurden." Inzwischen hat sich dieser Wind gelegt. Wie Amerika ohne Rückenwind aussehen wird, kann und will Davidson sich nicht vorstellen.
Sicher ist, dass sich die USA in einem radikalen Umbruch befinden. Die legendäre "Greatest Generation", die im zweiten Weltkrieg gekämpft hatte und im nationalen Bewusstsein mit dem nostalgischen Mythos der guten alten Zeiten verschmolzen ist, stirbt langsam aus; die "Baby Boomers", die das Land liberalisiert und modernisiert haben, gehen in Rente; und die jüngeren Generationen, die prosaisch „X" oder „Y" oder auch halb ironisch "Millenium Kids" genannt werden, stolpern von "bubble" zu "bust" und betrachten ihr Land mit zunehmender Irritation und einiger Orientierungslosigkeit.
Die Mittelklasse ist bedroht
Wirtschaftlich hat nicht nur die mit erheblicher krimineller Energie herbeigeführte Immobilienkrise zur aktuellen Problemlage geführt, sondern auch die Auswirkungen der Globalisierung, die zwischen 1999 und 2009 jeden dritten Industriearbeitsplatz vernichtet haben. Amerika wird nicht de-industrialisiert: das Land hat noch nie so viele Industrieprodukte produziert wie heute. Das Problem ist der immense Produktivitätszuwachs aufgrund von Technologie und Konkurrenzdruck, der den Arbeitsmarkt in hochspezialisiert (hochbezahlt) und ungelernt (prekär) spaltet und die Mittelklasse bedroht. On-job training reicht nicht mehr aus, um weiterzukommen; eine College-Ausbildung wird immer teurer. Die Einkommensschere nimmt groteske Ausmaße an.
Demografisch wird das Land bunter, vielfältiger und multiethnischer. Gleichzeitig "altert" Amerika: die Ausgaben für Medicare und Pensionen steigen. Der Staatshaushalt lässt sich nicht mehr ohne Schmerzen kürzen. Um die Ungleichheit zu bekämpfen, die zunehmend ein volkswirtschaftliches Risiko wird, schreibt Davidson, muss Amerika seine Probleme endlich angehen: "ein teures und ineffektives Bildungssystem, Teenage-Schwangerschaften, Drogenmissbrauch, anhaltende Diskriminierung und eine zersplitterte politische Kultur".
Nicht mehr weit von der Wut entfernt
In der Tat haben die Umbrüche zu einem tiefem kulturellen Graben geführt, der quer durch die traditionellen Parteien geht: "Red America" und "Blue America", wie David Brooks die zwei Blöcke etwas vereinfachend nach der farblichen Repräsentation auf der Landkarte der Wahlergebnisse von Republikanern und Demokraten nennt. Oder: "Retro America" und "Metro America", wie John Sperling titelte. Denn die radikale Bewegung in der republikanischen Partei wird vor allem von Nostalgie getragen (die viele Demokraten teilen); die Anhängerschaft Obamas dagegen von einem urbanen, liberalen und pluralistischen Lebensgefühl (das auch vielen Republikanern nicht fremd ist). Auf die Herausforderungen haben beide Gruppen fundamental unterschiedliche Antworten.
Trotzdem, auch wenn die derzeitige Situation nach einer Art Patt zwischen reformhungrigen Liberalen und kapitalistischen Rechten aussieht, sollte man nicht vergessen: es gab in Amerika schon einmal eine Koalition zwischen konservativer Wertegesinnung und kapitalismuskritischer Reformbereitschaft. Das war während der großen Depression, als der Gegenwind zu groß wurde und eine Mehrheit der Amerikaner althergebrachte republikanische Gemeinschaftswerte einforderte, Kapitalisten an die Leine legte und linke Modernisierer vorsichtig einband. Noch sind die USA weit entfernt von der Not der dreißiger Jahre; aber nicht mehr ganz so weit von der Wut. (Martin Klepper, derStandard.at, 17.4.2012)