Ein Unternehmen stellt sich als Kronzeuge in einem Kartellverfahren zur Verfügung. Die Bundeswettbewerbsbehörde beantragt dennoch die Feststellung seines kartellrechtswidrigen Verhaltens; über die anderen Kartellmitglieder will sie eine Geldbuße verhängen. Die Unternehmen verteidigen sich damit, dass ihre Vorgehensweise bekannt gewesen sei und sie im Vorfeld sogar den Rat eines im Wettbewerbsrecht erfahrenen Beraters eingeholt hätten. Außerdem habe das Kartellgericht ihre Konferenz als "Bagatellkartell" bezeichnet.

Der Oberste Gerichtshof legt den Fall dem Europäischen Gerichtshof zur Vorabentscheidung vor (OGH als KOG, 5. 12. 2011, 16Ok4/11). Europarechtliche Bedenken hat der OGH deshalb, weil der EuGH vor Inkrafttreten der VO (EG) 1/2003 einen Verbotsirrtum grundsätzlich als unbeachtlich angesehen hat, seit dem Inkrafttreten dieser Verordnung aber nicht darüber entschieden hat.

Sind Kronzeugen schuldig?

Er legt dem EuGH daher folgende Fragen vor: Dürfen Verstöße eines Unternehmens gegen europäische Wettbewerbsbestimmungen mit einer Geldbuße geahndet werden, wenn sich das Unternehmen über die Rechtmäßigkeit seines Verhaltens geirrt hat und man ihm diesen Irrtum nicht vorwerfen kann? Und: Sind die nationalen Wettbewerbsbehörden überhaupt dazu befugt, einen Wettbewerbsverstoß festzustellen, wenn über das Unternehmen ohnehin keine Geldbuße zu verhängen ist, weil es die Anwendung der Kronzeugenregelung beantragt hat?

Sollte der EuGH die erste Frage mit "Nein" beantworten, hat der OGH zwei weitere, nämlich: Ist ein Irrtum über die Rechtmäßigkeit des Verhaltens vorwerfbar, wenn ein Unternehmen sich auf einen Rechtsberater verlässt, der sich im Wettbewerbsrecht auskennt und nicht erkennen kann, dass dieser Rat nicht richtig ist? Und: Ist ein Irrtum über die Rechtmäßigkeit des Verhaltens vorwerfbar, wenn sich das Unternehmen auf eine Entscheidung der nationalen Wettbewerbsbehörde verlässt? Bis zur Entscheidung des EuGH ist das Verfahren in Österreich ausgesetzt. (Elisabeth Parteli, DER STANDARD, 18.4.2012)