Wien - Als die Tonträgerindustrie noch nicht die Macht im Musikleben übernommen hatte, blühte die Kunst der Improvisation als selbstverständlicher Teil der Musizierpraxis - auch und gerade in der sogenannten Klassik. Bis weit in die Romantik hinein (und darüber hinaus) waren große Komponisten auch begnadete Improvisatoren; bis ins 20. Jahrhundert konnten Virtuosen aus dem Stand heraus extemporieren.

Diese Fähigkeit ist bei den Interpreten inzwischen fast gänzlich verschwunden. Und deshalb war der Klavierabend von Gabriela Montero im Wiener Konzerthaus wie ein Besuch von einem anderen Stern. Zunächst aber versenkte sich die venezolanische Pianistin ganz in die Drei Intermezzi op. 117 von Johannes Brahms - und stellte danach eine wuchtige Version von Franz Liszts h-Moll-Sonate vor, bei der sie bereits den Gestus von aus dem Moment heraus erfundener Musik pflegte.

Ruppig und grüblerisch im Detail, mit Ruhe und Übersicht in der architektonischen Anlage hielt Montero das gigantische Werk in kaum noch zu ertragender Spannung und schuf so paradoxerweise die Voraussetzung für die gegensätzliche zweite Konzerthälfte. Leger griff sie hier zum Mikrofon, um das Publikum auf die nun folgenden, ganz anders gearteten lateinamerikanischen Klavierstücke vorzubereiten.

Mit den düsteren Untiefen deutsch-österreichischer Romantik haben die aus dem Tanz gespeisten Stücke des Kubaners Ernesto Lecuona, des Brasilianers Ernesto Nazareth und des Venezolaners Moisés Moleiro wenig gemein. Doch sie bildeten eine geeignete Brücke für die Hauptattraktion des Programms, für die Montero berühmt ist: ihre Improvisationen über vom Publikum genannte oder gesungene Themen, die sie an Bach oder Beethoven ebenso anlehnen kann wie an Liszt, Impressionismus oder Spielarten des frühesten Jazz.

Das Thema des Donauwalzers versteckte sie in einem stürmenden barocken Gewand, The Bare Necessities / Probier's mal mit Gemütlichkeit (Dschungelbuch) ließ sie aus einem melancholischen Klangteppich herauswachsen. Mit einer innigen, freien Meditation ging dieser Besuch zu Ende. (Daniel Ender, DER STANDARD, 18.4.2012)