Ein neues Buch stellt die Geschichte der Elektrizität in Österreich in internationalen und gesellschaftlichen Kontext.
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Warum nicht das Mittelmeer bei Gibraltar und am Bosporus mit Staumauern absperren, den Meeresspiegel absenken und so neues Land und ein ultimatives Kraftwerk schaffen? Im Europa der 1930er-Jahre war dieser Gedanke weniger abwegig, als er es heute ist.
Der Architekt Hermann Sörgel glaubte an seine Idee eines "Atlantropa". Ihr liegt der Zeitgeist zugrunde, von dem schon der Erste Weltkrieg zehrte. Man glaubte, technisch sei alles machbar, von der Massenvernichtung bis zum Megakraftwerk, sagt Oliver Rathkolb, Vorstand des Instituts für Zeitgeschichte der Universität Wien.
Atlantropa ist mit Sörgel gestorben. Großprojekte markieren dennoch die Geschichte des Kraftwerksbaus - auch in Österreich, wo das Großprojekt Kaprun zum Identifikationspunkt der Zweiten Republik wurde. Die Geschichte der Energiegewinnung in Österreich hat Oliver Rathkolb gemeinsam mit den Historikern Richard Hufschmied, Hannes Leidinger und Andreas Kuchler in einem Forschungsprojekt des Verbund aufgearbeitet und kontextualisiert. Eine Publikation wird am Mittwoch in Wien präsentiert.
Elektrizität wird ab 1870 als Kraftquelle entdeckt. Die Herrschaftselite im Habsburgerreich erkannte, vielleicht mit Ausnahme von Kronprinz Rudolf, der die Elektrizitätsausstellung in Wien in den frühen 1880er-Jahren eröffnete, die Zeichen der Zeit nicht. "In der Monarchie ist es nicht gelungen, die Wasserkraft zu einer Basis des ökonomischen Fortschritts zu machen", so Rathkolb.
In der Zwischenkriegszeit gab es durchaus wichtige Kraftwerksbauten. Was fehlte, waren Finanzkapital und politischer Wille: "Der Konflikt zwischen den Bundesländern und Wien blockierte einen offensiveren Ausbau." Dass die Basis für den Boom der Wasserkraft nach 1945 erst in der NS-Zeit gelegt wird, wie oft behauptet wird, stimme jedenfalls nur teilweise.
Die Nationalsozialisten nutzten den Kraftwerksbau vor allem für Propaganda. An Sörgels Atlantropa-Idee waren aber selbst die Nazis nicht interessiert. Nicht weil es absurd gewesen wäre, das Mittelmeer um bis zu 200 Meter abzusenken. "Für sie hat das in eine falsche Richtung gedeutet", so Rathkolb. Zu sehr war Hitler auf die Ostexpansion fixiert. Großprojekte wie Kaprun und Ybbs-Persenbeug blieben während der Nazi-Herrschaft in den Anfängen stecken. In Kaprun wurde nur unter massiver Ausbeutung von Kriegsgefangenen und Zwangsarbeitern eine erste Ausbaustufe fertiggestellt.
New Deal in Europa
Nach dem Krieg war mit dem Marshallplan Geld für Investitionen da. "Was gerne unterschätzt wird, ist, dass die Amerikaner in einer anderen Form den New Deal in Europa implantiert haben", sagt Rathkolb. Dabei ging es nicht darum, den Wirtschaftsplan und den exemplarischen Flussausbau des Tennessee-Valley-Projekts eins zu eins in Europa zu vervielfältigen. Die Politik ging flexibel auf die hiesigen Verhältnisse ein, und die Staaten wurden gezwungen zu planen. "Für mich ist der Kalte Krieg letzten Endes auf der Ebene entschieden worden, dass Westeuropa und die USA imstande gewesen sind, wesentlich homogener und nicht mit so brutalen Einschnitten wie der Kommunismus die industrielle Revolution umzusetzen" , sagt Rathkolb.
Der Marshallplan konnte aber nur in Verbindung mit einem entsprechenden Status quo zur österreichischen Erfolgsgeschichte werden. "Die Rüstungsindustrie der Nazis war, das kann man drehen und wenden, wie man will, eine Basis für eine ganz andere Ausgangslage in der Zweiten Republik", sagt Rathkolb. "Beides verdrängen die Österreicher mit großer Begeisterung." Der Wiederaufbau könne "nicht isoliert den braven Österreichern gutgeschrieben werden."
Der Kraftwerksbau von Kaprun machte in den 50er- und 60er-Jahren eine neue Karriere als österreichische Identitätsmetapher. Dass die Nukleartechnik trotz bester Vorbereitung mithilfe der USA erst recht spät im Anwendungsversuch Zwentendorf mündete, hängt für Rathkolb auch mit der Bedeutung der Wasserkraft zusammen. Sie wurde schnell als etwas typisch Österreichisches gesehen, auch wenn die Energieautarkie durch Wasserkraft bald nicht mehr der Realität entsprach.
Auch bei Hainburg wurde klar: "Die Frage eines Kraftwerksbaus ist mehr ist als ein isoliertes ökonomisches Projekt. Es ist auch immer ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen und Trends." Dem Negativbeispiel Hainburg steht die spätere funktionierende Debatte um das Kraftwerk Freudenau gegenüber.
Was früher die Wasserkraft war, sind heute Sonnenenergie und Wind, sagt Rathkolb. "Mit kleinen Alibiprojekten wird man da nicht weiterkommen." Bei einer Politik, die noch immer in den Kategorien von Großanlagen denkt, sei es noch ein langer Weg, bis die Dezentralisierung der Stromerzeugung großflächig bei den Mietshäusern angekommen ist. (Alois Pumhösel, DER STANDARD, 18.4.2012)