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Orcas oder Schwertwale sind gute Teamworker: bei der Jagd zwischen Eisschollen genauso wie bei der Verarbeitung der Beute.

Foto: AP/University of Washington School of Aquatic and Fishery Sciences, Josh M London

Die intelligenten Meeressäuger sind dabei durchaus wählerisch - und entpuppen sich als echte Feinschmecker.

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Unter der südpolaren Sommersonne tauchen plötzlich zehn spitze Rückenflossen aus dem Eismeer auf. Skuas, möwenähnliche Seevögel, verfolgen das Geschehen aus der Luft. Orcinus orca ist auf der Suche nach Futter. Fachleute bezeichnen diese Wale als Antarktische Packeis-Orcas Typ B - geheimnisvolle, hochintelligente Meeressäuger, die der Wissenschaft noch eine Menge Fragen aufwerfen.

Robert Pitman und John Durban, zwei Meeresbiologen der Naturschutzabteilung der US-Behörde National Oceanic and Atmospheric Administration in La Jolla, Kalifornien, ist es erstmalig gelungen, das komplexe Jagdverhalten dieser Tiere detailliert in freier Wildbahn zu studieren, wie sie im Fachjournal Marine Mammal Science darlegten. Mehr als zwei Wochen lang kreuzten die beiden Forscher zusammen mit einem Kamerateam an Bord einer großen Jacht im Gebiet des Laubeuf-Fjords an der Westküste der Antarktischen Halbinsel. Ziel der Expedition war es, Orcas mit Satellitensendern zu versehen, um sie so auf ihren Streifzügen filmen und verfolgen zu können. Die nur 41 Gramm schweren Geräte wurden auf Pfeilen montiert und per Armbrust in die Rückenflossen der Wale implantiert.

"Schwertwale sind die am weitesten verbreiteten Tiere auf unserem Planeten", sagt Robert Pitman im Gespräch mit dem STANDARD. Die Meeressäuger passen sich offenbar optimal an ihre jeweiligen Lebensräume und an ein bestimmtes Nahrungsangebot an. Standorttreue Orcas an den Nordwestküsten Nordamerikas zum Beispiel haben sich auf den Lachsfang spezialisiert. In Norwegens Fjorden sind Heringe die Hauptbeute, und in der Straße von Gibraltar lauern Schwertwalrudel Tunfischschwärmen auf.

Raffinierte Jagdtaktik

Dass sich die Packeis-Orcas im Südpolgebiet zu einem wesentlichen Teil von Robben ernähren, war der Wissenschaft schon seit einigen Jahren bekannt. Wie sehr die Wale ihre Jagdtaktik allerdings auf diese Art von Beute abgestimmt haben und wie wählerisch sie oft sind, zeigen erst die neuen Beobachtungen von Pitman und Durban. Die Biologen konnten an drei verschiedenen Schwertwalgruppen stundenlang deren Verhalten studieren. Die Tiere ließen sich von der menschlichen Präsenz kaum stören und zeigten ein erstaunlich raffiniertes, gezieltes Vorgehen. Eine Art Krimi am Ende der Welt.

Die Jagd verläuft grundsätzlich nach folgendem Muster: Sobald die Wale in einem Areal mit treibendem Eis eintreffen, schwärmen sie aus und beginnen mit dem sogenannten "spy-hopping". Die Orcas erheben sich dabei aus dem Wasser und schauen, ob eventuell Robben auf den Eisschollen liegen. Wenn einer der Jäger ein Beutetier entdeckt, sieht er es sich mehrfach aus der Nähe an und trifft dann offensichtlich eine Entscheidung: lohnend oder nicht. Denn nicht jede Robe scheint den Schwertwalen zu schmecken. Seeleoparden und Krabbenfresser werden verschmäht, wie Pitman und Durban diverse Male mit ansehen konnten.

Weddellrobben dagegen schweben sofort in Lebensgefahr, wenn sie von Orcas entdeckt werden. Der Wal, der die potenzielle Beute gefunden hat, taucht ab und nach 15 bis 30 Sekunden wieder auf. Wenige Minuten später treffen seine Rudelgenossen ein. Vermutlich ruft der erste unter Wasser die anderen herbei, meint Robert Pitman. Was danach folgt, erzählt der Biologe, ist ein wahrlich verblüffendes Schauspiel.

Die Jäger reihen sich dicht nebeneinander auf und schwimmen in Formation auf die Eisscholle mit der Robbe zu, dabei heftig und synchron mit ihren Schwanzflossen schlagend. So bilden die Schwertwale eine Art Mini-Tsunami, der entweder die Beute direkt ins Wasser spült oder das Eis zerbricht, was letztlich dasselbe Ergebnis zeitigt. Die Robbe, jetzt schutzlos ihren Häschern ausgeliefert, wird allerdings nicht sofort totgebissen. Stattdessen scheinen die Wale ihre Opfer bevorzugt zu ertränken.

Häuten und filetieren

Was mag der Grund für diese eher umständliche Tötungsmethode sein? Es ist wohl eine Frage der optimalen Zerlegung. Nach erfolgreicher Jagd nehmen sich üblicherweise zwei Schwertwale des Robbenkadavers an. "Sie verarbeiteten die Beute gemeinsam", erklärt Robert Pitman. Er und seine Kollegen konnten diesen unter Wasser stattfindenden Prozess zwar nicht im Detail verfolgen, doch einmal blieben die Überreste einer zerlegten Weddellrobbe an der Oberfläche treiben. Kopf, Haut, Fett und Vorderflossen inklusive Schulterblätter: alles sauber in einem Stück abgezogen.

Die guten Fleischportionen waren offenbar gezielt entnommen worden. Anscheinend hält ein Orca die Hinterflossen fest, während der zweite der Robbe das Fell vom Körper zieht, meint Pitman. "Sie dürften dabei eine große Geschicklichkeit mit ihren Lippen und ihren Zungen haben." Nachdem die getötete Robe gehäutet ist, beteiligen sich auch die anderen Rudelmitglieder an der Zerlegung. Die Beute scheint dabei gerecht aufgeteilt zu werden. Streit oder Rangeleien beobachteten die Forscher nie.

Ein ähnlich bemerkenswertes Verhalten entdeckten Pitman und Durban bei Schwertwalen, die gezielt Jagd auf Pinguine machen. In diesem Fall entnehmen die Orcas nur die Brustmuskulatur der Vögel. Sie filetieren ihren nur vier bis sechs Kilo schweren Fang regelrecht. Diese extrem selektive Ernährungsweise dürfte die Folge eines besonders großen Futterangebots sein, erklärt Robert Pitman. "Da sind die Wale wie wir Menschen." Bei Überfluss nur vom Feinsten. Zu weniger üppigen Zeiten fressen Orcas durchaus Seeleoparden und Krabbenfresser, wissen die Experten.

Die Spezialisierung auf eine bestimmte Sorte von Beutetieren ist gleichwohl eine ökologische Erfolgsstrategie, wie Pitman betont. "Alle Schwertwale neigen dazu." Viele Zoologen glauben zudem, die Teilpopulationen haben sich mittlerweile zu separaten Spezies entwickelt, die sich nicht mehr untereinander paaren. Das wäre durchaus logisch, meint Pitman. Die Anpassungen an Lebensraum und Beute wirken sich schließlich sowohl im Verhalten wie auch körperlich aus. Dementsprechend sei es denkbar, dass Orcas unterschiedlicher Herkunft einander nicht mehr als Artgenossen erkennen. Evolution in Echtzeit. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 18.4.2012)