Das Einlaufen in den Hafen ist immer eine ganz große Sache. Es ist der Moment, in dem Kapitän Sergej Strusevich die Kommandobrücke der MS Astor verlässt, aufs Vorderdeck tritt und eine klavierähnliche Apparatur, die manuelle Steuereinheit des Schiffes, aufklappt. Manöver in der seichten Newa sind besonders heikel. Viele Passagiere stehen seit Stunden an Deck, haben die Hafenanlagen und Docks vorüberziehen sehen. Und endlich tauchen sie auf, rechts die Isaak-Kathedrale, links die bunten Paläste der Zarenstadt. Die MS Astor wird vor der Blagoweschtschenskij-Brücke direkt im Zentrum der Stadt vor Anker gehen. Dass Anlegen Millimeterarbeit ist, wissen alle an Deck schon aus Stockholm, dem litauischen Kleipeda, dem finnischen Kemi und aus Helsinki.
Vorne machen die Matrosen die in Schnecken aufgerollten Taue fertig, die Anker werden an ihren Ketten hinuntergelassen, die Gangway aus ihrer Haltevorrichtung gelöst. Elegant nur mit einem Finger am silbernen Schalthebel, den Blick vor und zurück, navigiert der Kapitän das tonnenschwere Schiff. Die Kulisse dahinter ist imperial. "Mit dem Boot sollen Besucher in die Stadt kommen", sagte einst Zar Peter der Große, der Gründer der Stadt. Dementsprechend ist die Stadt architektonisch aufgebaut, hat der schiffseigene Reiseführer am Vorabend im Einführungsvortrag an Bord erzählt. "Da hatte Peter der Große aber wirklich recht", sagt eine rüstige Mittsechzigerin nickend. Ihr Mann lässt Kapitän Strusevich nicht aus den Augen. "Wie vorsichtig unser Kapitän an den Kai steuert", sagt er. Strusevich - still, gelassen und immer stark parfümiert - hat es schon viele Male gemacht. Er ist seit 1997 auf der MS Astor. Unfallfrei.
An der Anlegestelle am Boulevard Leitenanta Schmidta warten bereits die Busse, die die Passagiere zur Stadtrundfahrt, in die Eremitage oder die prachtvoll goldglänzenden Zarenschlösser außerhalb der Stadt bringen werden. Anmeldung am Vortag, bunte Kärtchen vor dem Landgang und ein genauer Zeitplan bestimmen die Organisation, die alle hier ausnahmslos loben. Dass das Leben in St. Petersburg eine harte Sache ist, die Gehälter niedrig und die Lebenskosten enorm, werden die Reiseführer in den Bussen in Nebensätzen erzählen.
Draußen Stau und Gehupe - im Bus wohlige Ordnung und permanente Information zu den Bauwerken, die draußen vorüberziehen. Kurz aussteigen, ein Schnappschuss zum Beispiel vor dem Panzerkreuzer Aurora ("Hier begann die russische Revolution 1917 mit einem Schuss auf den Winterpalast"), wieder rein in den Bus und weiter. Auf diese Weise "schafft" man die Stadt in zwei Tagen. Die Eremitage lässt die "Kreuzfahrer" zwei Stunden vor der regulären Öffnungszeiten rein. Die Säle sind menschenleer - "das allein ist eine Sensation", sagt die Reiseführerin.
Daheim in der Fremde
"Entweder du bist vom Kreuzfahrtvirus infiziert oder nicht", sagt Romana Cavaletti, die für das Wohl der Passagiere auf der MS Astor verantwortlich ist. Das Durchschnittsalter an Bord sei 60 plus, sagt sie, viele der gutsituierten Reisenden haben schlohweiße Haare, tragen pastellfarbene Kleidung. Auf 478 durchwegs rüstige Passagiere kommen 262 Besatzungsmitglieder, "über nichts nachdenken müssen und sechsmal am Tag essen, das lieben unsere Gäste", sagt Cavaletti. Ihre Mitarbeiter sprechen alle Deutsch und sind immer guter Laune. "Die Kreuzfahrer auf der Ostseereise sind sehr kulturinteressiert", erklärt sie, man mache sie deshalb "nicht nur mit guten Guides, sondern auch mit Vorträgen und Filmen glücklich.
Zum Ballett "Schwanensee" im Petersburger Marijinski-Theater fahren die meisten mit. Mit Smoking und in Abendkleidern geht's noch einmal mit den Bussen ins abendliche Petersburg. Eine tolle Vorstellung, sagen alle. Auf der Heimfahrt ist "der Verkehr so idyllisch wie die Stadt selbst", tönt es aus dem Lautsprecher. "Huch, bin ich müde! Gut, dass wir wieder daheim sind", sagt eine Frau beim Erklimmen der Schiffsgangway.
St. Petersburg ist der Höhepunkt der Ostseereise. Tallinn am nächsten Tag ist beschaulich. Steinerne Trutzburgen, die Kirche namens "dicke Margarethe", es gibt ein Museum der Okkupation, der russischen natürlich. "70 Jahre sind an Estland nicht spurlos vorübergegangen", merkt die Reiseführerin an und klingt bitter. Doch das Land ist im Aufbruch. Wer will, kann hier aus dem "betreuten Reisen" ausbrechen und mit dem Fahrrad zum Kumu Art Museum für moderne Kunst radeln. Am Weg sieht man, wie wenig Geld zum Renovieren der bunten Holzhäuser vorhanden sein muss. Der Kontrast zur schwedischen Ferieninsel Visby am nächsten Tag ist augenfällig. Dieselbe Architektur, nur herausgeputzt und wie aus dem Bilderbuch, "nach der ganzen Fresserei tut das Radfahren gut", sind sich alle einig.
Krönender Abschluss am vorletzten Abend ist das Captain's Dinner. Strusevich und seine Mannschaft haben weiße Jacketts an, die Passagiere haben sich feingemacht, himmeln ihren Kapitän an. "Meine lieben Gäste, es war mir eine Ehre, sie hier an Bord zu haben", sagt Strusevich auf Deutsch und hebt das Glas. Hinten ein kleiner Tumult: Eine Frau hat ihrem Vordermann mit der Krücke auf die Schulter geschlagen, weil der ihr beim Toast die Sicht auf den Kapitän verstellt hat. "89 Prozent aller MS-Astor-Passagiere sind Stammgäste", sagt Cavaletti stolz. Bei jedem Auslaufen aus einem Hafen ertönt Nini Rossos Trompetenhymne "Il silenzio", im dänischen Bornholm dann zum letzten Mal. Wem bei den sehnsuchtsvollen Klängen die Gänsehaut aufsteigt, der ist infiziert mit dem "Kreuzfahrervirus". (Karin Pollack, Rondo, DER STANDARD, 20.4.2012)