Graz - "Eine ganz heikle, eine ganz traurige Geschichte", sagt die Grazer Richterin Michaela Lapanje.

Psychiatrische und neurologische Gutachten seien aktuell in Auftrag gegeben worden, in vielleicht drei Wochen werde man mehr wissen, und dann werde sie als Richterin gemeinsam mit zwei Kollegen entscheiden, ob der Fall jenes Mannes, der wegen sexuellen Missbrauchs seiner Tochter seit 2007 inhaftiert ist, neu aufgerollt werde. Die Tochter, die ihren Stiefvater mit ihren Beschuldigungen ins Gefängnis gebracht hatte, kann zur Aufklärung dieses "sehr komplizierten Falles" (Lapanje) nichts mehr beitragen. Sie ist letzte Woche an den Folgen extremer Abmagerung gestorben.

In den letzten Monaten hatte die 25-jährige Frau ausschließlich Kaffee und Red Bull zu sich genommen. Mit ihrer Selbstzerstörung wollte sie auf ihren Fall aufmerksam machen und die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ihren Stiefvater erzwingen. Sie beteuerte wiederholt, sie habe gelogen, ihr Stiefvater säße zu Unrecht im Gefängnis.

Vor zwei Jahren hatte sie erstmals eingeräumt, dass der Missbrauch erfunden gewesen sei, um ihren Stiefvater von der Familie wegzubringen. Diese Schuld habe sie aber erdrückt, sagt die Juristin Karin Prutsch, bei der die junge Frau Rechtsbeistand gesucht hatte. Prutsch im Gespräch mit dem Standard: "Sie sagte zuletzt: Ich kann nicht mehr mit dieser Schuld leben, ich ertrag es nicht und will das Unrecht endlich wieder gutmachen. Als sie zu mir in die Kanzlei kam und ich sie gesehen habe, in ihrem körperlichen Zustand, hab ich gewusst, es ist Gefahr in Verzug. Ich habe mir sofort eine Kamera gekauft, um ihre Aussage aufzunehmen."

Rechtsanwältin: "Wir haben es mit lauter Opfern zu tun"

Darin wiederholte die junge Frau ihr Geständnis, dass sie die Anschuldigungen erfunden habe, um ihrer Mutter zu helfen. Sie hatte dies zwar schon mehrmals angegeben, auch vor Gericht, aber immer wieder abgeschwächt, was die Beurteilung der Aussagen "so schwer macht", sagt Richterin Lapanje. Anwältin Prutsch: "Sie hatte Angst, strafrechtlich wegen einer falschen Aussage verfolgt zu werden, also hat sie ihr Geständnis immer wieder relativiert. Zuletzt hat sie aber gemeint: Jetzt ist mir alles egal."

Die beiden Gutachten, die auf den protokollierten Aussagen basieren, sollen jetzt Klarheit bringen. Auch, ob der vor einem Jahr erlittene Schlaganfall neurologische Beeinträchtigen mit sich gebracht hat.

Karin Prutsch rechnet sich gute Chance aus, dass der Mann ("auch kein Leichter, er hatte Vorstrafen") eine neuerliche Verhandlung bekommt. Prutsch: "Was genau in der Familie passiert ist, werden wir wohl nie erfahren. Irgendwie haben wir es hier mit lauter Opfern zu tun." (mue, DER STANDARD, 20.4.2012)