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Nicolas Sarkozy kämpft um eine zweite Amtszeit.

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Staatstragender Blick in die Ferne: Die Wahlplakate von François Hollande und Nicolas Sarkozy wirken austauschbar.

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Grafik: DER STANDARD

Stolz funkelnd überragt er Paris, doch hinter dem Postkartenbild sieht der Alltag des Eiffelturms wesentlich nüchterner aus: Von den drei Liften zu den Aussichtsplattformen funktioniert derzeit ein einziger - ein Sinnbild für Frankreich? Die Touristen hier machen sich höchstens ein paar Gedanken über Anspruch und Wirklichkeit der "schönsten Stadt der Welt". Die Pariser murren zurzeit eher: "On morfle", wir müssen da einfach durch, wir müssen dauernd einstecken.

Um das so einnehmende Reiseland Frankreich ist es schlecht bestellt. Der ehemalige Chef des Glas- und Baukonzerns Saint-Gobain, Jean-Louis Beffa, beschreibt in seinem neuen Buch La France doit choisir (Frankreich muss wählen), wie die Volkswirtschaft gegenüber der deutschen immer mehr in Rückstand gerät, wie sie ächzt unter der Krise und dem Gewicht eines Staates, der für 55 Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) aufkommt. Das sei Rekord, moniert Beffa, der kein Liberaler ist, sondern für eine starke staatliche Industriepolitik eintritt.

Die Arbeitslosigkeit hat die Zehn-Prozent-Marke überschritten, der Außenhandel hat ein neues Rekorddefizit von 75 Milliarden Euro erreicht. "Made in France" zieht global nicht mehr. Beffas Fazit: Frankreich drohe eine "stille Dekadenz."

Vor dem Niedergang fürchtet sich die Grande Nation schon seit dem 19. Jahrhundert. Das wurde auch im vergangenen März klar, beim 50. Jahrestag des Waffenstillstands von Evian, der Algerien die Unabhängigkeit brachte. Das sonst so zeremonienfreudige Frankreich organisierte nicht eine offizielle Gedenkfeier. "Der Verlust Algeriens markierte das Ende des französischen Anspruchs, ein Weltreich zu sein", erklärt der Autor Olivier Guez. Er sieht im Algerienkrieg den Anfang von Frankreichs Problemen mit seinen tristen Vorstädten und dem Islam.

Internationale Konkurrenzfähigkeit und das eigene Verhältnis zu den Immigranten: Diese Themen interessieren die Franzosen brennend. Die Präsidentschaftskandidaten gehen aber nur oberflächlich darauf ein - oder polemisch. Der ehemalige sozialistische Premier Michel Rocard wirft ihnen daher unumwunden "kollektive politische Dummheit" vor.

Die Mordserie von Toulouse hätte, mit gebotener Distanz, eine Gelegenheit geboten, über die verdrängte, explosive Banlieue-Misere zu debattieren. Nicolas Sarkozy und François Hollande blendeten sie aber konsequent aus.

Auch wirtschaftspolitisch stecken die Kandidaten den Kopf in den Sand. Sie suchen das Heil nicht in notwendigen Strukturreformen, sondern schieben Brüssel die Verantwortung zu und fordern von der EU Wachstumsmaßnahmen. Dabei haben die Nachbarn Italien, Spanien, England und Deutschland drakonische Spar- und Reformpläne beschlossen oder handelten, wie seinerzeit der deutsche Kanzler Gerhard Schröder, schon vor der Krise. Paris hält das alles für unnötig, bleibt bei Rekord-Staatsausgaben, bei der 35-Stunden-Woche und beim Pensionsalter von 62 Jahren.

Frankreichs Grundproblem ist sein Zentralstaat, der einen aufgeblähten, weltfremden Beamtenapparat finanzieren muss. Und allzu oft verhindert die Pariser Führungskaste jeden sozialen Aufstieg aus den Banlieue-Vierteln - mit den bekannten und oft dramatischen Folgen in diesen isolierten Immigrantenghettos.

Die Kandidaten verschließen lieber ihre Augen vor diesen Großbaustellen, doch die Wähler wissen, dass diese "exception française" nicht ewig Bestand haben kann und dass die Versprechen der Kandidaten inmitten der Euro(pa)krise sehr schnell Makulatur sein werden.

Nach der Wahl am Sonntag werden die Probleme erst richtig beginnen. Der nächste Präsident sollte den Franzosen zuerst einmal reinen Wein einschenken, statt die Korken knallen zu lassen. Und er sollte gleich mit der Renovierung des Eiffelturms beginnen. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, 21./22.04.2012)