"Lust am Forschen" - BILD
Studierte ohne Matura und bewies mathematisch, dass Materie nicht in sich zusammenfällt
Wien (APA) - Für jemanden, der nach einem Unglück bloß die Familientradition fortsetzen wollte, hat Walter Thirring Erstaunliches erreicht. Er hat als theoretischer Physiker Weltklasse gezeigt und diese in Wien etabliert. Er hat bei Erwin Schrödinger gelernt, mit Werner Heisenberg und Wolfgang Pauli gearbeitet, mit Albert Einstein diskutiert und gemeinsam mit dem US-Physiker Elliott Lieb bewiesen, dass Materie stabil ist - kein Wunder also, dass er "Lust am Forschen" hatte, wie er auch seine 2009 erschienene Autobiografie betitelte. Am 29. April feiert er seinen 85. Geburtstag.
Dabei hätten Thirring die Bach'schen Inventionen zunächst viel mehr interessiert als Einsteins Relativitätstheorie oder die Quantenmechanik, Dinge die er seinem Vater und dem "begabteren Bruder" überlassen wollte. Doch der drei Jahre ältere Bruder Harald fiel im Zweiten Weltkrieg. Er ahnte seinen nahen Tod und bat die Eltern in einem Abschiedsbrief, den Walter Thirring in seiner Autobiografie "Lust am Forschen" veröffentlichte, "nicht allzu traurig" zu sein: "Ihr habt ja noch den Walter, und er vereint ja in sich ebenso große Begabung mit großem Schöpferwillen."
Walter Thirring bat daraufhin den Vater um ein Lehrbuch der Physik. "Er gab mir das Buch von Joos, und das war eine treffliche Wahl." 600 Seiten theoretische Physik ackerte er in einem drei Monate langen Krankenurlaub nach einer Blinddarmoperation durch. Noch keine 16 Jahre alt, musste Thirring dem Dritten Reich als Flakhelfer dienen. Doch er benutzte seine Mathematikkenntnisse, um die Winkelkoordinaten so umzurechnen, "dass die Granate etwa 50 Meter hinter dem Flugzeug explodierte."
Nach dem Kriegsende, das Thirring in einem Tiroler Lazarett erlebte, überzeugte er den Dekan der Uni Innsbruck von seinen Physikkenntnissen und durfte ohne Maturazeugnis inskribieren. Das Studium hat er in der minimalen Zeit von drei Jahren abgeschlossen und mittels Sondererlass erlangte er die Doktorwürde auch ohne Hochschulreife. Verspätet bekam er 2009 von seinem Gymnasium, der Neulandschule in Wien-Grinzing, ein Maturazeugnis "honoris causa" - es war wohl nicht nur für Thirring eine Ehre.
Thirring lernte die Feinheiten der mathematischen Physik bei Erwin Schrödinger am Dublin Institute for Advanced Studies und dem etwas weniger bekannten Bruno Touschek in Glasgow. Er arbeitete bei Werner Heisenberg am Max-Planck-Institut in Göttingen und bei Wolfgang Pauli an der ETH-Zürich. Er heiratete und nahm eine Stelle an der Universität Bern an.
Es folgt eine Einladung an das Institute of Advanced Studies in Princeton (USA) wo Thirring Einstein traf, der mit der Quantenfeldtheorie allerdings nicht viel anfangen konnte, an der sich "die Jungen" begeistern. Weitere Stationen in Thirrings Lehr- und Wanderjahren, wie er sie selbst bezeichnet, waren das Massachusetts Institute of Technology (MIT) und eine Gastprofessur an der University of Washington in Seattle.
"Eine Mischung aus Patriotismus und Widerspruchsgeist" erklärte er der APA, zog Thirring 1959 nach Wien zurück. Zwar hätten ihm "viele große Leute gesagt, das soll ich nicht machen, weil der Geist, der in Österreich herrscht, ist nicht wissenschaftsfreundlich", aber er trotzte allen Widrigkeiten und finanziellen Engpässen und war sich nicht zu schade, "eine Vorlesung über die gesamte theoretische Physik" zu halten und Kleinigkeiten wie das Toilettenpapier des Instituts als "special expenses" der US-Airforce zu verrechnen.
In Wien gelang Thirring gemeinsam mit dem US-Physiker Elliott Lieb 1975 sein wohl bekanntester mathematischer Beweis: Mittels der sogenannten "Lieb-Thirring-Ungleichungen" konnten sie zeigen, dass Materie stabil ist und Elektronen und Atomkerne nicht aufgrund der anziehenden elektrischen Kräfte in sich zusammenfallen.
Thirring leitete von 1968 bis 1971 als Direktor die Abteilung für theoretische Physik am CERN (Europäische Organisation für Kernforschung). Wieder zurück in Wien, war er 1993 gemeinsam mit Peter Michor und Heide Narnhofer maßgeblich an der Gründung des Internationalen Erwin Schrödinger Instituts für Mathematische Physik (ESI) beteiligt.
In jüngster Zeit widmete sich Thirring dem Schreiben von Büchern. In "Kosmische Impressionen - Gottes Spuren in den Naturgesetzen" sowie "Baupläne der Schöpfung" versucht er Wissenschaft und Religion auszusöhnen, indem er darlegt, dass die beiden einander nicht ausschließen und näher seien, als die Protagonisten glauben.
Die Verpflichtungen, die er mit der theoretischen Physik eingegangen ist, haben ihn von seiner großen Leidenschaft nicht abgehalten: dem Musizieren. Er komponiert und spielt Orgel. Thirring kann seine wahre Liebe nicht verbergen, wenn er in der Autobiografie schreibt: "Jedenfalls beweist die Musik, dass es Dinge gibt, die nicht allein durch die physikalischen Gegebenheiten erklärbar sind."