Hugo-Fan und Nicht-Mélenchon-Wählerin Joelle Stolz.

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Beim ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahl wollte er vor allem die Pasionaria der Extremrechten, Marine Le Pen, überholen. Ziel knapp verfehlt. Aber die große Überraschung dieses Wahlkampfes 2012 war er trotzdem: Jean-Luc Mélenchon, der talentierte Volkstribun von einer "Linken der Linken", die sich auf die kommunistischen Ideale beruft, die Robespierre Danton vorzieht und Hugo Chávez mehr bewundert als Barack Obama.

Realistische Einschätzung Als Anfang 2011 Mélenchon angekündigt hatte, er werde der Kandidat der Linken Front - eine 2009 gegründete Plattform von linken Organisationen, unter anderen seine eigene Linke Partei (10.000 Militante) und die alte kommunistische Partei Frankreichs, die PCF (die noch 100.000 Mitglieder zählt) -, hat man ihm kaum vier Prozent der Stimmen vorhersagt. Er selbst hat damals sein Potenzial bei 12-15 Prozent gesehen: keine so schlechte Einschätzung.

Mit Sprüchen wie "Ich bin Schall und Wahn", "Konsens ist tödlich", „ Populist? Ich stehe dazu", "Ich bin eine Gefahr" (gerade im Moment, wo sein sozialistischer Rivale François Hollande die City in London zu beruhigen suchte) oder "Ergreift die Macht!" hat dieser ehemalige Minister von Lionel Jospin, Senator und europäischer Abgeordneter die von der Linken Enttäuschten aufgerüttelt, die niemals Le Pen wählen würden.

Der Grüne Daniel Cohn-Bendit erinnert zwar daran, dass "das Leben nicht so einfach ist wie eine Rede von Mélenchon", dass diese "jakobinische und zentralistische Linke" Frankreich in den Abgrund führen würde, dass allein Europa und nicht „verarmte Staaten" den Rahmen für eine ambitionierte Politik im öffentlichen Interesse bietet. Diese Argumente können jedoch kaum etwas der geschickt in Fernsehdebatten oder in großen „ brüderlichen" Versammlungen gepflegten Schwärmerei anhaben. Wie viele "Bobos" ("bourgeois-bohême"), die natürlichen Verbündeten von François Hollande oder dem Zentristen François Bayrou, haben sich je unter Gewerkschafter, Intellektuelle in Prekarität oder junge Arbeitslose gemischt - in Lille, Lyon, Montpellier oder Marseille?

Ganz zu schweigen von der Place de la Bastille, wo der Kandidat der Linken Front eine rote Fahnen schwingende und die Internationale singende Menge von mehr als 100.000 Menschen begeisterte. Es ist diese nationale und klassenübergreifende Dimension (mit Ausnahme der konservativen Bretagne, dem jakobinischen Zentralismus stets abgeneigt), die das „Phänomen Mélenchon" von anderen antiliberalen Strömungen in Europa unterscheidet. In Deutschland hat Die Linke sicher vergleichbare Resultate erzielt (11,9 Prozent bei den vergangenen Bundestagswahlen), aber ihre Bastionen befinden sich in der früheren DDR.

In Frankreich, wo der Kommunismus nie an der Macht war (außer am Ende des Krieges mit einem Stimmenanteil von 28,8 Prozent und viel später in der ersten Regierung von der Präsidentschaft Mitterrand), hat dieser doch lange Zeit die Intellektuellen verführt. Gegen die Logik ... Der Maler Hundertwasser war, als er nach dem Zweiten Weltkrieg nach Paris kam, schockiert, dass Saint-Germain-des-Prés der Sowjetunion huldigte: Man hatte natürlich im Café de Flore kaum dieselben Ansichten wie im von sowjetischen Soldaten besetzten Wien. Die PCF war die „Partei der Hingerichteten", geheiligt durch den antinazistischen Widerstand, und die UdSSR das Märtyrerland, das den Mythos der unbezwingbaren Wehrmacht in Stalingrad zerstört hat.

Simone de Beauvoir beschreibt in ihrem Roman Les Mandarins das Zögern Sartres, vernichtende Dokumente über den Gulag zu veröffentlichen, um nicht "die Linke" (sprich: die PCF) zu schwächen. Mélenchon hat eine trotzkistische Vergangenheit, ein antistalinistisches Zeugnis. In einem liberalen Europa, das seine Jugend nicht begeistern kann, um die Sparpolitik und die Härten der Globalisierung zu vergessen, schöpft er in der reichhaltigen Saga Frankreichs, vor allem der Revolution von 1789 und der Pariser Kommune. ... der Buchhalter Aber sein Gebetsbuch ist nicht Das Kapital.

Es ist, und er sagt dies mit ehrlichem Enthusiasmus, "der größte populistische Roman": Les Misérables (Die Elenden) von Victor Hugo, aus denen er den faszinierten Zuhören seitenweise zitiert. Ein wahrlich genialer Zug. Denn Hugo ist ein vollkommener Mann seines Jahrhunderts, Dichter, Roman- und Theaterautor, großartiger Zeichner, ungestümer Liebhaber und zarter Familienvater, eine Art politisch engagierterer Goethe, Autor unvergesslicher Aussagen ("eine Schule, die sich öffnet, ist ein Gefängnis, das schließt").

Dem es gelungen ist, in der Person Jean Valjeans - auf der Leinwand von Generationen von Schauspielern verkörpert - die christliche Idee der Erlösung und die emanzipatorische Passion der Moderne, den Glauben und die Barrikaden zu vereinen. "Sogar das Tischchen von Victor Hugo wählt Mélenchon", scherzte der Literaturkritiker Pierre Assouline anlässlich einer kürzlich erfolgten Versteigerung von Objekten aus dem Besitz des Schriftstellers. Es handelt sich um den runden Tisch, mit dem Hugo und seine dem Spiritismus verfallenen Freunde während dessen Exils unter Napoleon III. in Jersey Tote zum Sprechen brachten - Shakespeare oder Mohammed, auf Französisch und in Versen.

Auch der Kandidat des Front de Gauche beherrscht die Kunst, verlorengeglaubte Hoffnungen wieder zu erwecken, die Noblesse des Wortes angesichts der deprimierenden Logik der Buchhalter. Natürlich wird er letztlich dazu aufrufen, für Hollande zu stimmen, und wie die anderen um sein Hemd in den Parlamentswahlen kämpfen. Aber während mehrerer Monate konnten hunderttausende Wähler eine sehr französische Passion leben: rot zu träumen. Joëlle Stolz ist Wiener Korrespondentin von "Le Monde".

Sie hat Mélenchon nicht gewählt, ist aber seit ihrem Literaturstudium ein Fan von Victor Hugo. „Ergreift die Macht!" - Volkstribun Jean-Luc Mélenchon, ein Kandidat, „ der die Kunst beherrscht, verlorengeglaubte Hoffnungen wieder zu beleben". (Joelle Stolz, DER STANDARD, 23.4.2012)