Rein rechnerisch scheint das Rennen für das Elysée sehr offen. Nach dem offiziellen Ergebnis des ersten Wahlgangs liegt der Sozialist François Hollande mit 28,6 Prozent der Stimmen nur knapp vor dem amtierenden Präsidenten Nicolas Sarkozy, der auf 27,2 Prozent kommt. Die beiden Spitzenkandidaten trennen nicht einmal 1,5 Prozentpunkte. Und Sarkozy hat noch zwei Wochen Zeit, den Spieß umzudrehen und in einem Fernsehduell - voraussichtlich Mitte nächster Woche - zu punkten.

Seine Wahlkampfsprecherin Nathalie Kosciusko-Morizet eröffnete am Montag gleich die Feindseligkeiten: Sie warf Hollande vor, er habe "Angst vor der Konfrontation", da er Sarkozys Vorschlag für insgesamt drei TV-Duelle ablehne; zudem drohe Frankreich der "Bankrott", wenn das Programm des Sozialisten umgesetzt werde.

Angriffe ins Leere laufen lassen

Hollande reagierte wie üblich, indem er den Angriff ins Leere laufen ließ. Seine Gelassenheit macht viel deutlicher als das Wahlergebnis, wer wirklich an den Sieg glaubt. In der Sarkozy-Partei UMP gab es am Wahlabend nur lange Gesichter, Sarkozy selbst wirkte angeschlagen. Er weiß, dass der Ausgang des ersten Wahlgangs eine persönliche Schlappe für ihn ist. Viele seiner Wähler liefen zum Front National (FN) über, dessen Kandidatin Marine Le Pen mit 17,9 Prozent der Stimmen besser abschnitt, als es ihr Vater Jean-Marie Le Pen bei fünf Präsidentschaftskandidaturen jemals geschafft hatte.

Damit kam es zur umgekehrten Wählerbewegung von 2007: Sarkozy hatte damals mit Sicherheitsthemen erfolgreich Wahlkampf betrieben und schätzungsweise zwei Millionen FN-Wähler abgeworben. Er kam auf 31,2 Prozent der Stimmen, Jean-Marie Le Pen nur auf 10,4 Prozent.

Warum sind diese Wähler nun wieder von Sarkozy abgefallen? Diese Frage ist nicht nur für die Erklärung des ersten Wahlgangs wichtig; sie dürfte auch die Stichwahl entscheiden. Denn ohne eine massive Stimmübertragung der FN-Wähler hat der konservative Präsident keine Chancen, Hollande zu schlagen.

Wähler fühlen sich verschaukelt

"Sarkozy wollte verständlicherweise den Coup von 2007 wiederholen", analysierte am Montag Brice Teinturier, Generaldirektor des Umfrageinstitutes Ipsos. "Er ging auf strammen Rechtskurs und sagte der illegalen Immigration den Kampf an. Die Taktik ging aber diesmal daneben." Warum? Jetzt fragten sich viele Wähler, warum Sarkozy Wahlversprechen halten sollte, die er seit 2007 vergessen hatte. Dies gilt nicht nur für die Immigration, sondern vor allem für die Frage der Kaufkraft: Gerade die aus unteren Einkommenskategorien stammenden FN-Wähler fühlen sich vom früheren Sarkozy-Slogan "Mehr arbeiten, um mehr zu verdienen" verschaukelt.

Nicht genug damit: Sarkozy präsentierte sich außerdem erneut als "Kandidat des Volkes" gegen die Pariser Eliten und gegen "das System". Der Trick verfing auch nicht. "Wie kann ein amtierender Präsident, der das ganze Staatswesen verkörpert, als Systemgegner auftreten?", fragte "Le Monde"-Chefredaktor Erik Izraelewicz am Sonntag in einem Radiointerview. "Das war total unverständlich für die Wählerschaft des Front National."

Kein brandneuer Kandidat

Mit anderen Worten: Sarkozy übersah, dass man als Präsident in Amt und Würden nicht den gleichen Wahlkampf betreiben kann wie als brandneuer Kandidat. Die Quittung hat er am Sonntag erhalten. Als erster Präsident der 1958 gegründeten Fünften Republik zieht Sarkozy nicht als Erstplatzierter in die Stichwahl ein. Dieser psychologische Nachteil ließe sich wettmachen, zumal Sarkozy an Wahlmeetings und am Fernsehen besser wirkt als der - persönlich wie inhaltlich - wenig greifbare Hollande.

Zudem folgen die beiden Wahlgänge jeweils einer eigenen Logik: Im ersten stimmen die Franzosen nach ihrem persönlichen Gusto, im zweiten nach der Kompetenz des Kandidaten - schließlich geben sie die Geschicke der ganzen Nation für fünf Jahre in seine Hände. Auch diesbezüglich hätte Sarkozy mit seiner Elysée-Erfahrung und seinem Ruf als Krisenmanager an sich gute Karten.

45 Prozent im besten Fall

Doch auf 27 Prozent zurückgefallen, müsste der Präsident seine Stimmenzahl in zwei Wochen fast verdoppeln. Dazu müsste er die Stimmen Le Pens und des christlichsozialen Mittekandidaten François Bayrou (9 Prozent) fast vollständig auf seine Seite ziehen. Wie das Umfrageinstitut Ipsos am Sonntag vorrechnete, laufen aber nur 60 Prozent "Lepenisten" zu Sarkozy über, während immerhin fast ein Fünftel Hollande vorzieht; Bayrous Stimmen werden hälftig geteilt.

Damit kommt Sarkozy im besten Fall auf 45 Prozent der Stimmen. Ipsos ist am Montag in einer ersten Erhebung zur Stichwahl zu einem ähnlichen Schluss gekommen: Sarkozy kommt demnach nur auf 46 Prozent der Stimmen, Hollande würde mit 54 Prozent klar gewinnen. Wenn der Noch-Präsident diese Tendenz umkehren will, muss er mehr als eine Million FN-Wähler abwerben; und angesichts der Weigerung Le Pens, eine Stimmempfehlung abzugeben, scheint das selbst für einen Politzampano wie Sarkozy äußerst schwierig. Aber wie schon sein heimliches Vorbild Bonaparte sagte: Unmöglich ist nicht französisch. (Stefan Brändle, derStandard.at, 23.4.2012)