Auch wenn die Spitze der Bundesregierung mit ÖBB-Managern, steirischen und niederösterreichischen Landespolitikern heute, Mittwoch, frohgemut ins Erdreich buddelt, um mit einem "Spatenstich" zu signalisieren, das Jahrhundertprojekt "Semmeringtunnel" sei auf Schiene: Der Schein trügt.
Das Milliardenprojekt hat eine (mit Beschwerden beim Verwaltungsgerichtshof eingedeckte) Umweltverträglichkeitsprüfung absolviert und steht auch sonst ohne wichtige Genehmigungen da. Umweltschützer, allen voran die Landschaftsschutzorganisation "Alliance for Nature" (AFN), die maßgeblich dazu beigetragen hat, die Ghega-Bahn samt 8800 Hektar Umgebung unter Unesco-Weltkulturerbe-Schutz zu zu bringen, machen jetzt richtig Dampf. Denn in der Steiermark begann erst vor fünf Tagen das große Genehmigungsverfahren. Die Kundmachung erfolgte - versteckt via Homepage der Landesregierung - und hat es in sich, geht es doch um Genehmigungen gemäß Wasserrecht, Abfallrecht, Denkmalschutz und Luftrecht (wegen der Errichtung einer 110-KV-Leitung).
Bis 1. Juni können in Graz Einwendungen in deponiert werden. In Niederösterreich sind noch naturschutzrechtliche Einsprüche anhängig. AFN-Generalsekretär Christian Schuhböck: "Dieser Spatenstich ist eine politische Show, um zu suggerieren, dass das Tunnelprojekt fixiert ist, es ist ein Staatsstreich, das steirische Großverfahren ist ja noch offen."
Entscheidende Frage
Abseits dieser von offizieller Seite ignorierten Probleme blieb auch die entscheidende Frage bis heute ausgespart: Was bringt es Österreich, wenn Container in Danzig auf dem Zug durch Österreich gekarrt und im slowenischen Koper auf ein Schiff verfrachtet werden?
Tausende Arbeitsplätze und Milliarden an Wertschöpfung, trommeln Bundesregierung, ÖBB, Bauindustrie und Landespolitiker. Die sogenannte "Baltisch-Adriatische Achse" von Polen bis zum Mittelmeer sei von immenser Bedeutung, weil diese transeuropäische Eisenbahnverbindung - Kritiker sprechen mangels Verkehrsaufkommen, Bedarf und Investitionen in Polen und Tschechien von einem Phantom - Wirtschaftskraft bringe und daher Österreich nicht umfahren dürfe.
So überzeugt sind freilich nur der Kärntner Landeshauptmann Gerhard Dörfler (dessen Vorgänger Jörg Haider sich das ebenso umstrittene Semmering-Schwester-Projekt Koralmtunnel von Schwarz-Blau herausgepresst hatte) und Konsorten. In der EU-Kommission ist die baltisch-adriatische Achse keineswegs unumstritten, insbesondere was deren finanzielle Dotierung mit Förderungen betrifft. Ihr gelten Semmering- und Koralmtunnel eher als innerösterreichische Prestigeprojekte, die mit anderen Nord-Süd-Korridoren konkurrieren, allen voran Brenner- und Ungarn-Achse - denen bereits in der Monarchie der Vorzug gegeben wurde. Es war der legendäre steirische Erzherzog Johann, der in den 1820er Jahren die Semmeringbahn gegen Wien durchsetzte - für Erz- und Kohletransporte.
Nun entzweit der Semmering erneut. Die EU-Kommission budgetiert für 2014 bis 2020 rund 30 Milliarden für Verkehrsinfrastruktur. Definiert sie Semmering- und Koralm nicht wie erhofft als "Flaschenhals", sieht es schlecht aus mit Förderungen von 20 bis 30 Prozent für die beiden Projekte, warnte EU-Parlamentarier Hubert Pirker (VP) vor der Sitzung des Verkehrs- und Industrieausschusses im EU-Parlament am Dienstag.
Beim Semmering wären dann eine Milliarde Euro perdu, bei der Koralm 1,7 Milliarden. Überzeugungsarbeit ist gefragt. Ohne Mehrheit keine Aufnahme in die TEN-Prioritätenliste. Das wird nicht einfach, Polen und die Baltischen Staaten priorisieren eine Anbindung an die Ostsee. Im Verkehrsministerium schwärmt man dennoch: Jeder investierte Euro bringe fünf Euro Wachstum und sichere pro Jahr 10.000 Jobs. (Walter Müller, Luise Ungerboeck, DER STANDARD, 25.4.2012)