Ein Paradigma funktioniert für Kuhn wie ein Kippbild: Entweder man sieht den Hasen oder die Ente, nie aber beides.

Illustration: Joseph Jastrow
Buchcover: Suhrkamp

Es ist ohne Zweifel eines der einflussreichsten Bücher über die Wissenschaft, das je geschrieben wurde. Das lässt sich auch an einigen nackten Zahlen ablesen: In den Jahren rund um 1980 war Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen von Thomas S. Kuhn (1922-1996) das am häufigsten zitierte Werk in den Sozial- und Geisteswissenschaften und hatte bis dahin auf Englisch eine Million Käufer gefunden. Die deutsche Übersetzung hält bei der 22. Auflage und einer Gesamtauflage von knapp 100.000 Stück.

Der Bestseller, der Prozesse wissenschaftlichen Wandels analysiert, wirkte entsprechend weit über die akademische Forschung hinaus: Zwei der zentralen Begriffe des Buchs, "Paradigma" und "Paradigmenwechsel", wurden dank Kuhn zu geflügelten Worten. Und Ian Hacking, der die Einleitung zur Neuauflage des Buchs anlässlich seines 50-Jahr-Jubiläums schrieb, hält es nach wie vor für ein "wichtiges Werk, das bis heute unsere Vorstellung über Wissenschaft prägt".

Kuhn, ein promovierter theoretischer Physiker mit Harvard-Abschluss, stellte mit seinem schmalen Band nichts weniger als die Vorstellung eines kontinuierlichen wissenschaftlichen Fortschritts infrage. Er behauptete stattdessen, dass "normale " Wissenschaft immer wieder in Krisen und von da in wissenschaftliche Revolutionen geriet, die ihrerseits wieder in eine Phase "normaler" Wissenschaft münden würden.

Inkompatible Paradigmen

Eine der Pointen von Kuhns Behauptung: Durch solche Paradigmenwechsel würde man nicht notwendigerweise zu einer "wahreren" Repräsentation der Welt kommen. Ein "Paradigma" würde in der Revolution einfach von einem anderen abgelöst, ohne dass die beiden kompatibel wären: So etwa habe der ältere Masse-Begriff von Newton nichts mit dem von Einstein zu tun. Es sei wie bei dem berühmten Kippbild, mit dem Kuhn seine These von der Inkommensurabilität der Paradigmen illustrierte: Entweder man sieht den Hasen oder die Ente.

Was aber genau ein Paradigma sein soll, das bleibe bei Kuhn "vage und beliebig", kritisiert der Wissenschaftshistoriker Mitchell G. Ash von der Uni Wien. In einer Analyse des Buchs wurden gar mehr als zwanzig verschiedene Bedeutungsdimensionen des Begriffs entdeckt. "Paradigma" steht bei Kuhn zwar vor allem für die Menge der gemeinsamen Einschätzungen, Werte und Techniken eines Teils der "Scientific Community" - aber eben auch für sehr viel mehr. Kuhn entschuldigte sich selbst später einmal dafür, den Begriff quasi nutzlos gemacht zu haben.

Ein anderes Problem trat auf, als man versuchte, Paradigmenwechsel wie den von Newton zu Einstein auch in anderen Disziplinen zu entdecken. Für die Sozialwissenschaften etwa erwies sich Kuhns Konzept als völlig unbrauchbar. "Vor allem aber sind Paradigmenwechsel keinesfalls die einzige Form grundlegenden Wissenschaftswandels", sagt Ash, "und selbst da, wo davon die Rede sein kann, verlaufen Paradigmenwechsel - bei allem Respekt für die Kühnheit und Klugheit Kuhns - nur selten nach dem von ihm vorgezeichneten Muster."

Begründer der modernen Wissenschaftsforschung

Sein Kollege Ian Hacking sieht das ähnlich, findet aber doch einige Beispiele jenseits der Physik, die sich mit Kuhns Begriffen gut beschreiben lassen - wie etwa die Revolution durch die Plattentektonik, die in der Geologie den Blick auf die Erde völlig verändert habe. Das große bleibende Verdienst von Kuhn liegt für Hacking allerdings darin, dass Kuhn die "Scientific Community" und ihre Praktiken für Analysen erschlossen habe. "Und damit begründete er quasi die moderne Wissenschaftsforschung."

Mitchell Ash rät hingegen dennoch dazu, "Kuhn zu vergessen", und verweist auf die Ideen des polnischen Bakteriologen und Wissenschaftstheoretikers Ludwik Fleck (1896-1961), von dem Kuhn viel gelernt habe: Tatsächlich sind Flecks Begriffe "Denkstil" und " Denkkollektiv" recht ähnlich wie Kuhns "Paradigma" und "Scientific Community".

Laut Ash seien Flecks Ideen dabei für die heutige Forschung "weitaus brauchbarer - weil sie globale Erklärungen des Wissenschaftswandels gerade nicht verheißen". (tasch, DER STANDARD, 25.4.2012)