Sie gelten als Frust- und Protestwähler, als sozial Ausgeschlossene und Verlierer. Jetzt dürfen sich die 6,4 Millionen Wähler des Front National (FN) aber so richtig umgarnt fühlen. Sie gelten nämlich als Mehrheitsmacher für die Stichwahl in knapp zwei Wochen. Vor allem Nicolas Sarkozy (27,2 Prozent im ersten Wahlgang) ist auf sie angewiesen. Gemäß Wahlsimulationen benötigt der konservative Präsident vier Fünftel der FN-Stimmen, um noch eine Wahlchance zu haben. Marine Le Pen (17,9 Prozent) dürfte aber gar keine Stimmempfehlung abgeben. Und wenn schon, wird sie auf Distanz zu Sarkozy und seiner Partei UMP gehen, um sich im Fall eines linken Wahlsiegs als rechte Oppositionschefin zu profilieren.
Bei einem Wahlauftritt meinte Sarkozy am Dienstag unumwunden: "Man muss das Votum für den FN verstehen." Le Pens Kandidatur sei von den Behörden abgesegnet gewesen und damit "vereinbar mit der Republik", verteidigt er seinen Rechtskurs. Am Vortag hatte der Präsident, kaum waren die Resultate des ersten Wahlgangs bestätigt, Le Pens FN-Diskurs fast wörtlich übernommen: "Ein Europa, das die Migrationsströme nicht reguliert, das seine Grenzen nicht verteidigt und das seine Märkte ohne Gegenleistung öffnet, ist am Ende", erklärte er.
Lanze für die "Kleinen"
Auch brach er eine Lanze für die "Kleinen" und die "Ranglosen" und ergänzte: "Wenn man leidet, hat man das Recht zu wählen, wie man will." Damit setzte er den Befund von Wahlsoziologen um, wonach Le Pen vor allem bei sozial einfachen und benachteiligten Bevölkerungskategorien in peripheren und ländlichen Gegenden neue Stimmen geholt hat. Nicht von ungefähr besuchte er am Dienstag die am südlichen Rand der Pariser Agglomeration gelegene Stadt Longjumeau.
Wahlversprechen relativiert
Der sozialistische Herausforderer François Hollande (28,6 Prozent) begab sich gestern ebenfalls auf "FN-Boden", wie man in Frankreich sagt. Der 57-jährige Sozialist ließ sich nicht ganz zufällig mit Polizisten fotografieren, um sein Einstehen für die Sicherheit der Franzosen zu markieren. Dann reiste er in die arme Landwirtschaftsregion Picardie nördlich von Paris, wo Le Pen mit 25 Prozent eines ihrer besten Resultate erzielt und fast mit den Spitzenkandidaten gleichgezogen hat. In Paris relativierte die sozialistische Ex-Präsidentschaftskandidatin Ségolène Royal gleichzeitig ein wichtiges Wahlversprechen Hollandes: Sein Vorhaben, auf Gemeindeebene das Ausländerstimmrecht einzuführen, sei "nie unsere Priorität gewesen", erklärte Royal zweifellos mit Blick auf den Front National.
Hollande sagte in einem Zeitungsinterview: "Es liegt an mir, die Wähler des Front National zu überzeugen. Meine Pflicht ist es, mich umgehend an diese Wähler zu wenden, die nicht unbedingt für die FN-Ideen und insbesondere die Fixierung auf die Immigration sind, sondern die eine soziale Wut ausdrücken." Sozialistensprecher Benoît Hamon machte ebenfalls klar, seine Partei wolle nur die sozial benachteiligten FN-Wähler gewinnen, "nicht den großen fremdenfeindlichen Teil".
Sarkozy konterte umgehend, die Sozialisten näherten sich den FN-Wählern "mit zugehaltener Nase". Er selbst wendet sich ihnen mit offenen Armen zu.
Zuerst spalten, dann versammeln
Ob das die richtige Strategie ist, muss sich weisen. In der politischen Mitte haben sich schon mehrere Parteigänger von François Bayrou (9,1 Prozent) für Hollande ausgesprochen, noch bevor ihr bisheriger Kandidat auch nur eine Stimmempfehlung abgegeben hat. Eine politische Regel der Fünften Republik besagt, dass man als Kandidat im ersten Wahlgang spalten, im zweiten versammeln muss. Ein amtierender Staatschef bringt zudem seine fünfjährige Erfahrung im Elysée mit und kann sich deshalb - wie François Mitterrand 1988 oder Jacques Chirac 2002 - über die Parteipolitik erhaben zeigen. Sarkozy hätte diese Postur auch versuchen können. Aber dafür ist es vielleicht schon zu spät. Also setzt er lieber alles auf eine Karte - die rechte.
Hollande setzt geschickt nach, um Sarkozy nicht allein das Feld zu überlassen, aber er lehnt sich auch nicht zu weit aus dem Fenster. Im Prinzip muss er gar nichts tun; er kann gelassen zusehen, wie sich sein rastloser Rivale abrackert und immer tiefer im FN-Sumpf versinkt. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, Langfassung, 25.04.2012)