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"Grotesk: Just jene, die ihr Leben per Internet bereitwillig dem Zugriff von Konzernen preisgeben, protestieren am lautesten gegen die Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte durch den Staat.

Foto: Reuters

Man muss sich den alten Griechen als glücklichen Menschen vorstellen. Zu Hause, im oikos, vollbrachte er sein Tagwerk, indem er Äcker kultivierte und seine Familie versorgte. Und auf der Agora, dem Versammlungsplatz, trug er seine politische Meinung zu Markte. Die Trennung zwischen Privatem und Politischem war intakt. Es galt die Maxime, dass sich der Staat nicht in die Belange der Familie einmischen darf, und der Bürger gleichsam nicht in das Gebaren der Staatsmänner. Das war undemokratisch, aber konsequent.

Im Zuge der Aufklärung begann sich die Abgrenzung allmählich aufzulösen. Der mündige Bürger begehrte am Gemeinwesen zu partizipieren, er forderte Mitsprache und Verantwortlichkeit der Entscheidungsträger. Politische Debatten waren fortan nicht mehr Gegenstand elitärer Zirkel, sondern der Allgemeinheit. Die Öffentlichkeit entstand. Flugblätter, Pamphlete, Periodika informierten die Massen und klärten über Missstände auf. Die Entscheidungsträger wurden rechenschaftspflichtig.

"Das Private ist politisch", postulierte die 68er-Bewegung und versuchte damit den Schutzwall der Intimität niederzureißen. Das Motto prangte sogar an der Toilettentür der Kommunarden. Heute, im Zeitalter der digitalen Revolution, gibt es kaum noch verschlossene Räume. Jedes Dokument, jede Depesche kann eingesehen werden

Einerseits ist diese Offenheit zu begrüßen. Andererseits birgt sie die Gefahr, dass sie die Integrität des Informationsträgers beeinträchtigt. Der Fall Wikileaks hat eindrücklich vor Augen geführt, wie gefährlich es sein kann, wenn diplomatische Kabel der Öffentlichkeit zugänglich sind. Nicht, dass die Allgemeinheit keinen Anspruch auf Information hätte. Doch wie soll ein Staat seiner Sicherheitsaufgabe gerecht werden, wenn Geheimdienstinformationen terroristischen Gruppierungen in die Hände fallen? Wenn Baupläne für Atombombe publik werden? Staatsgeheimnisse haben nicht den Zweck, den Bürgern Informationen vorzuenthalten, sondern sie zu schützen.

Gleichwohl duldet der wachsame Bürger keine Arkadien. Mit geradezu jakobinischer Vehemenz verlangt er uneingeschränkte Publizität. Jedes Detail muss öffentlich sein. Die Piraten-Partei, die in Europa gerade auf einer Sympathiewelle segelt, hat sich dieses Credo auf die Fahnen geschrieben. Sie geriert sich als Antisystempartei, die die etablierten Kräfte der Kungelei bezichtigt und den Bürgern die Hinterzimmertüren öffnet.

Transparenz ist zum Fetisch einer postaufklärerischen Gesellschaft verkommen. Eigentlich ein objektiver Maßstab für die Durchsichtigkeit und Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen, wird Transparenz zu einem politischen Programm erhoben. Die Offenheit des Verfahrens soll auf materielle Güter ausgedehnt werden. Egal, ob es sich um Baubeschlüsse, Architektenpläne oder Musikdateien handelt. Daten als Ware. Die groteske Gratismentalität der Piraten steht in scharfem Widerspruch zu Urheber- und Markenrechten. Wo jeder alles besitzt, wird das Eigentum entwertet. Und darin liegt der Denkfehler der Internetbewegung. Die Aktivisten, die sich gerne libertär geben, sind in Wirklichkeit freiheitsberaubend. Die Individualrechte werden im Konzept der "liquid democracy" förmlich weggeschwemmt.

Auf der anderen Seite arbeiten die Bürger kräftig an dieser Entwicklung mit. In sozialen Netzwerken werden digitale Lebensläufe erstellt, private Fotoalben kreiert, Homestorys geliefert - so viel öffentliche Nabelschau war nie. Auf Facebook ist man mit hunderten Personen " befreundet", man chattet, flirtet, postet, was die Leitung hergibt. Bereitwillig öffnen die User die Tür zum digitalen Zuhause. Man weiß gar nicht, ob das Private öffentlich ist oder die Öffentlichkeit privat geworden ist. Beide Sphären scheinen zu verschmelzen. Und das hat Konsequenzen. Die Öffentlichkeit, ehedem der Hort der Vernunft, verflüchtigt sich zu einem diffusen Raum, der zunehmend Affekten und nicht mehr Argumenten gehorcht. Die Cyber-Agora entbehrt des rationalen Diskurses. In atemberaubendem Tempo werden Meinungen ventiliert, die nicht selten verletzend und diffamierend sind. Die Betroffenen sind den anonymen Anfeindungen ausgeliefert. Die Selbstentäußerung erodiert die wichtigste Ressource zwischenmenschlicher Beziehungen: Intimität.

Da mutet es geradezu grotesk an, dass ausgerechnet jene Bürger, die ihr Leben im Internet ausbreiten, am lautesten nach Persönlichkeitsrechten rufen. Sie geißeln die Gängelung durch den Staat und protestieren gegen Acta und Vorratsdatenspeicherung. Gleichwohl: Nicht der Staat ist der Orwell'sche Bösewicht, sondern Internetgiganten wie Google, Facebook oder Amazon. Die Unternehmen erstellen Nutzungsprofile und machen sie für ihre kommerziellen Zwecke dienstbar. Das Problem ist, dass sich transnational agierende Konzerne schwerlich an Datenschutzvorgaben binden lassen. Die Grundrechte, eigentlich als Abwehrrechte gegen den Staat konstituiert, laufen leer. Der Bürger ist de facto schutzlos gestellt.

Die digitale Revolution erfordert eine Neuvermessung der Privatsphäre. Gewiss, ein Ordnungsmodell nach altgriechischem Vorbild wäre heute undenkbar. Doch eine sichtbare Grenzziehung zwischen Privatem und Politischem erscheint angesichts der ausufernden Publizität unabdingbar. Staat und Bürger bedürfen eines informationellen Schutzraums, eines Status, in dem sie frei agieren können und der dem Zugriff anderer Akteure entzogen ist. Nur so kann die Integrität der Gemeinschaft gewahrt werden. (Adrian Lobe, DER STANDARD, 25.4.2012)