Mit seinem Text "Meine grausame Kindheit" (Album, DER STANDARD, 20.4.2012) hat Leopold Federmair eine breite Diskussion entfacht. In einer Reaktion hatte etwa Marco Schreuder, Bundesrat der Grünen und Sprecher der Grünen Andersrum, geschrieben: "Mir tut Herr Federmair aufrichtig leid. Sein Versuch, Missbrauchserfahrung in der Jugend literarisch zu verarbeiten, ist begrüßenswert. Der Versuch scheiterte aber kläglich, denn er wurde auch Opfer von Vorurteilen und mündet in blanke, wütende und blinde Homophobie."

Brief an meinen Bruder über Kremsmünster

Deine Frage, wie ich so einen Text schreibe: natürlich anders als z. B. über ein japanisches Thema "nach Fukushima", auch anders als die noch mehr literarischen Texte, die du, wenn überhaupt, erst viel später zu Gesicht bekommst. Der Text über Kremsmünster ist sehr eng mit Dingen verbunden, an denen ich arbeite, autobiografische Sachen, auch Punkte, die ich für mich bewältigen muss - sofern das überhaupt geht, man weiß ja nie, ob man es schafft. Das mit den schwulen Erziehern umkreise ich ja schon lange, zum Beispiel ist in der Erzählung "Kleiner Wiener Walzer" genau diese sich wiederholende Streichelwatschenszene beschrieben, in einem viel mehr fiktionalen, erfundenen Kontext. Und ein mit mir befreundeter Autor hat mir gerade heute geschrieben, dass er einiges von dem, was im STANDARD-Artikel steht, schon aus dem Stifter-Buch kannte. Daran hatte ich gar nicht gedacht, aber er hat natürlich recht. Die Vorfälle gehören genau in diese Sphäre der Bigotterie. Und wenn ich mir die Reaktionen auf den Artikel ansehe, fürchte ich, dass wir als Gesellschaft nicht weitergekommen sind, nur die Vorlieben und Meinungen und Sprechweisen der Leute haben sich verändert, aber darunter ist vieles gleich geblieben.

Ich habe mir lange überlegt, ob ich etwas zu Kremsmünster schreiben soll, in dieser direkten Form. Und als ich es dann getan habe, habe ich das Herz gespürt, geballte Arhythmie, Kakorhythmie sozusagen - wenn es noch stärker ist, spricht man wohl von einem Anfall. Das ist seit einiger Zeit beim Schreiben hin und wieder so, manchmal sogar nur, wenn ich im Handumdrehen ein formales Problem lösen oder mehrere Stränge zusammenbekommen muss (manche Dinge muss man beim Schreiben schnell machen). Ich habe dabei an alle gedacht, ganz konkret, an H., an unsere Mutter, an meine Geschwister, auch an Pater A., der heute sicher ein alter, seelisch zerstörter Mann ist, anders kann ich es mir nicht vorstellen (weshalb mir die Rufe nach Abstrafen einfach zu blöd, zu kurz gegriffen sind). Es sind Leute aus Fleisch und Blut, und ich bin aus Fleisch und Blut, ich spüre ja das Herz schlagen. Und für H. kann diese Veröffentlichung eventuell Folgen haben. Aus diesen Gründen ist es eine besondere Situation, eine besondere Anforderung, so etwas zu schreiben.

Ich habe gewusst, dass ich auf viel Widerspruch stoßen werde. Mehr noch auf Ablehnung, auch Hass. Das ist meiner Auffassung nach eine wichtige Aufgabe von Literatur, genau in die Richtung zu gehen, wo Verhärtungen sind, stillschweigende Verbote, Stereotype, eingefahrene Denkweisen usw. Ganz anders als Jelinek, die Stereotype wiederholt und mit ihnen spielt, daraus entsteht dann die Komik. Mir geht es darum, Stereotype aufzubrechen und Menschen jenseits des gedanklich oder begrifflich Festgelegten zu zeigen. Das hat auch etwas Böses, Aggressives, geht nicht ohne sprachliche Gewalt, ich muss es wohl zugeben. Und dann - falls sie es überhaupt wahrnehmen - kommt es zum Streit mit der Mehrheit, mit der Übermacht; auf einer bestimmten Ebene kann ich da nur verlieren. Aber ich wollte nie zu einer Mehrheit gehören.

Der Text, er heißt eigentlich "Das rote Sofa", ist aus der Perspektive jener Zeit geschrieben: Perspektive der Heranwachsenden, der Kinder, aber auch der Mutter, der Mütter, ich glaube, ich kann es im Plural sagen. Um 1970 hätte kein Mensch in diesem Milieu das Wort "Pädophilie" in den Mund genommen, kaum jemand hätte gewusst, was das heißt. Ich habe sehr konsequent den damaligen Sprachschatz gebraucht, aber auch die damaligen Sichtweisen. Die Ängste der Mütter bezogen sich auf Sexualität allgemein, aber im besonderen Fall auf das "Warmsein", das die Kirche ja früher und zum Teil noch heute ganz scheel angesehen hat. Angst der Mutter, das Kind könne auf die falsche Seite geraten. Und vielleicht auch Angst des Kindes, das sowieso generell Angst vor Sexualität hatte. Das Wort "bekehren" kommt ja aus der Religion, natürlich habe ich bewusst genau dieses Wort gebraucht. Und das Ich - also ich, Leo - sagt ja ausdrücklich, dass er nicht bekehrt worden ist, er hat festgestellt, dass das so gar nicht geht. Die Erzählung in diesem Sinn zu verstehen ist wirklich nicht besonders schwierig. Und wer sorgfältig liest, merkt, dass in dem Satz mit "bekehren" ein bisschen Ironie steckt, also etwas von der Distanz, die ich heute zu dem Geschehen habe, das mich immer noch betrifft.

Aber eigentlich geht es bei dieser Pädophiliediskussion um einen wichtigen Inhaltspunkt. Die ganze Frage, ob schwul oder pädophil, hat schon auch was von Wortklauberei, denn natürlich sind die Pädophilen, die ich beschrieben habe, homosexuell, was denn sonst. Heutzutage ist es in Österreich politisch-moralisch korrekt, zu zeigen, dass man die Schwulen als gleichberechtigte Gruppe akzeptiert. Wunderbar. Und zugleich braucht man offenbar auch da wieder den Sündenbock, den Bösen, den anderen, damit man sich abgrenzen kann. Die Schwulen selbst und die, die sie politisch korrekt unterstützen, brauchen das Negativ, die Negativfigur. Das ist dann der Pädophile, vulgo Kinderschänder. Nein, wir Schwulen - oder "unsere Freunde, die Schwulen" - tun so was nicht. Ich glaube, die, die so denken, denken dann nicht weiter, denn der nächste Denkschritt wäre: abstrafen, einsperren, wegschaffen. Das kann in bestimmten Fällen tatsächlich die letzte Möglichkeit (und Notwendigkeit) sein. Ja, klar. Aber es geht doch um Menschen wie den von mir im Text beschriebenen freundlichen pädophilen Schwulen. Der ist kein "Braver", aber er ist auch kein Schwerverbrecher. Um diese Leute geht es. Letztlich sind wir alle so, keine Braven und keine Schwerverbrecher. Und das wiederum wollen viele nicht hören.

Ein Bekannter hat mir geschrieben, dass er mit demselben Fußballbetreuer eine ähnliche Erfahrung gemacht hat wie ich. Zweifellos gibt es noch viele, die derartiges berichten könnten, und es gibt sicher noch mehr schwule Sportbetreuer, wie es auch pädophile Lehrer gibt - das wird man nicht alles "säubern" können. Ich vermute, dass viele Opfer solche Erfahrungen gar nicht an sich herankommen lassen, weil sie ihnen unangenehm sind, ohne dass sie durch den Vorfall oder die Vorfälle tief "traumatisiert" worden wären - wie ein weiteres dieser Schlagwörter lautet. Dieser Bekannte jedenfalls zeigt sich bis zu einem gewissen Grad sogar froh, immerhin sei er in die Sexualität eingeführt worden. Es wäre ihm zwar lieber gewesen, das wäre auf normalem Weg mit einem Mädchen geschehen, aber immerhin, besser als nichts ... Die "normalen" Wege waren im katholisch-ländlichen Raum oft blockiert.

Natürlich sprechen alle diese Enthüllungen und Diskussionen über Kremsmünster nicht gegen das Christentum an sich, auch nicht gegen die Kirche an sich. Meiner Meinung nach sprechen sie nur gegen eines entschieden: das Zölibat. Ich glaube, der Hass, den ich da gegen meinen Artikel und gegen mich spüre, ist auf einer allgemeineren Ebene dieser undifferenzierte Hass gegen die (katholische) Kirche, der sich in den letzten Jahren breitgemacht hat. Du weißt, ich bin schon vor vielen Jahren aus der Kirche ausgetreten; trotzdem finde ich diese Entwicklung sehr unangenehm und bedenklich. Bedenklich wie den blinden Amerika-Hass und so viele andere Hass-Gesten, die sich eingespielt haben. Sehr verbreitet ist er in meiner eigenen Generation. Das sind oft Leute, die sich als Jugendliche und Studenten "fortschrittlich" fühlten und jetzt vermutlich, nach vielen Lebensjahren, frustriert sind. Was soll man denen sagen, außer, dass man nie aufhören sollte, die Dinge neu anzusehen, immer wieder, auch wenn man schon alles kennt. (Leopold Federmair, derStandard.at., 25.4.2012)