"Ihr seid die SS", schreit einer von etwa 20 Demonstranten über das von der Polizei gesicherte Eisengitter. "One way ticket to hell", ist auf einem Transparent zu lesen. Der Grund für die Wut der rechtsgerichteten Demonstranten: eine alternative Gedenkveranstaltung von Palästinensern und jüdischen Israelis in Tel Aviv, die an die Opfer des Konflikts auf beiden Seiten erinnert.
Anderswo trauerten Israelis am Dienstag, dem "israelischen Gedenktag für gefallene Soldaten und die Opfer des Terrorismus", lediglich um die israelischen Opfer des Konflikts. Doch seit fünf Jahren organisiert die Gruppe Combatants for Peace einen Gedenkabend, der die Verluste auf beiden Seiten in den Vordergrund stellt.
"Kein Terrorist"
"Mein Mann wurde ermordet, als er von der Al-Aqsa-Moschee in Jerusalem nach Hause fahren wollte", sagt die Amerikanerin Moira Jilani vor rund 2.400 Zuhörern im Hangar 11 am alten Hafen von Tel Aviv. Jilani hat mit ihrem palästinensischen Ehemann und ihren Kindern in der Jerusalemer Altstadt gelebt. Im Juni 2010 sollte ihr Mann Ziad nicht mehr zurückkehren. Er habe als "Terrorist" drei Polizisten mit seinem Wagen angefahren. Die Polizei hat ihn erschossen. "Mein Mann war unbewaffnet. Laut mehreren Augenzeugen ist er unbeabsichtigt von der Straße abgekommen", sagt Moira.
Moira engagiert sich im sogenannten Familienzirkel mit rund 600 palästinensischen und israelischen Familien, die Angehörige infolge des Konflikts verloren haben. Einem jungen Israeli habe sie im Zuge dieser Arbeit einmal gesagt: "Eines Tages wirst du ein Soldat sein und unsere Töchter und Söhne am Kontrollpunkt anhalten. Wirst du sie dann als Menschen behandeln oder sie pauschal als Terroristen kategorisieren?"
"Keine Erklärung"
Auch die Israelin Ayelet Harel trauert um einen Angehörigen. Vor 30 Jahren ist ihr Bruder Yoval als Soldat mit der israelischen Armee im Südlibanon einmarschiert. Beim palästinensischen Flüchtlingslager Ein al-Hilweh ist er umgekommen. "Er war ein schöner Mann, war schlau und las gerne. Sein Tod quält mich nun seit 30 Jahren", sagt sie mit leicht zitternder Stimme. Aus dem Publikum ist kein Laut zu hören.
"Heute weiß ich, die einzige Lehre aus seinem Tod ist, dass ich verhindern will, dass andere Menschen dasselbe Schicksal erleiden", sagt sie. Dem Familienzirkel sei sie beigetreten, als sie Mutter wurde. "Ich habe erkannt, dass es keine menschliche Erklärung gibt, die ich meinen Kindern zum Tod meines Bruders geben kann."
Zwischen den Reden im Hangar 11 treten immer wieder Künstler auf. In den Liedern und Theaterstücken geht es vor allem um eines: das Absurde am Krieg und seine Konsequenzen. Für Ayelet ist die Art, wie Israel den Gedenktag bestreitet, nicht heilsam. Man solle die Trauer um die eigenen Angehörigen nicht mit dem Nationalismus vermischen. Tod sei niemals ein Dienst für das Land, sondern vor allem ein persönliches Schicksal.
"Die dritte Seite"
Wie wichtig es im heutigen Israel geworden ist, mit aller Kraft das Gemeinsame zwischen all dem Nationalismus und Hass zu suchen, erklärte die palästinensische Israelin Rima Jawabra.
"Ich bin in dem arabischen Ort Umm el-Fahm aufgewachsen. Meine ganze Jugend lang habe ich kaum Israelis getroffen. Trotzdem wusste ich immer, dass dort draußen jüdische Israelis sind. Ich sah sie nie als Freunde oder gar Partner, sondern immer als die anderen, die Palästina besetzen", sagte Jawabra, die den Abend moderierte.
Erst als sie in der israelisch-palästinensischen Friedensarbeit aktiv wurde, habe sich das geändert. Oft habe sie in dieser Arbeit übersetzt, da sie Hebräisch und Arabisch spricht. "Aber als Palästinenserin in Israel habe ich oft nicht gewusst, in welcher Sprache ich über mich selbst sprechen soll. Hebräisch, Arabisch? Oft weiß ich nicht, mit wem ich lieber spreche. Tratsch mit Freundinnen in Tel Aviv oder lieber mit Palästinenserinnen? Aber ich weiß jetzt, dass ich so etwas wie eine dritte Seite bin. Ich kenne beide Sprachen und beide Kulturen." (Andreas Hackl, derStandard.at, 26.4.2012)