Ich gestehe, ich hatte Bedenken gegen diese Laudatio, zu der ich mich breitschlagen ließ, ohne auch nur eine Zeile von Nora Gomringer gelesen zu haben. Ich hatte auch Bammel vor der Lektüre dieser jungen Lyrikerin, weil die alten Herren des Literaturbetriebs in ihrer Gier nach Frische oftmals junge Lyrikerinnen auf den Parnass stemmen, um sie, berauscht vom jungen Blut und den davon aufgewirbelten Fantasien, abzufeiern.

Auch hatte ich Skrupel, eine Laudatio auf eine Lyrikerin zu halten, da ich der Lyrik zusehends skeptischer gegenüberstehe. Irgendwie kommt sie mir vor wie jener oststeirische Arbeitslose, der sich vor nicht einmal einem Monat aus lauter Angst vor der Überprüfung seiner Arbeitsfähigkeit durch das Arbeitsamtservice nach dem Konsum mehrerer selbstgebrannter Schnäpse mit einer selbstgebastelten Sägevorrichtung einen Fuß selbstvergessen abgeschnitten hat und diesen dann auch noch, um sicherzustellen, dass er ihm nicht mehr angenäht werden kann, in den Heizkessel geworfen hat. Obwohl der Oststeirer fast verblutet wäre, gilt er jetzt, nach dieser unfassbaren Verzweiflungstat, noch immer nicht als arbeitsunfähig.

Auch die Lyrik hat sich mit der klassischen Moderne selbst einen Fuß abgeschnitten und sichergestellt, dass er nicht mehr angenäht werden kann. Seit sie Metrik, Versmaß und Strophenform aufgegeben hat, hatscht sie dahin und kommt kaum noch zu ihrem Pu-blikum. Und dem nicht genug, kam in den 1950er-Jahren auch noch die Konkrete Poesie, deren Hauptvertreter justament der Vater der heute Auszulobenden ist, um mit der Beseitigung des lyrischen Ichs auch noch das verbliebene Standbein abzuhacken. Auch wenn sich daran längst nicht alle Gedichteschreiber halten, ist es, als würde die Lyrik in einem Rollstuhl sitzen und nur noch von ein paar Unentwegten angeschoben werden. Damit das aber keiner sieht, baut der Literaturbetrieb eine hohe Hermeneutikmauer, hinter der dann Ginster, Hortensien, Levkojen und wie das bei Literaturbetriebsdichtern so beliebte Zeug heißt, ungehindert, nämlich ohne durch breittretende Blicke der Masse gestört zu werden, sprießen können.

Laut einer Umfrage wollen 60 Prozent aller Deutschen mit Lyrik nichts zu tun haben. Die Verkaufszahlen sprechen dieselbe Sprache. Wenn, wie ein Verleger sagt, der Vertreter dem Buchhändler nicht in längstens einer Minute klarmachen kann, worum es geht, hat das Buch keine Chance. Darunter leidet alle Literatur, besonders aber die Lyrik.

Außerdem ist die Lyrik, diese einem völlig aus der Mode gekommenen Musikinstrument zugedachte Gattung, ziemlich in Misskredit geraten. Ein Freund von mir hat, wenn auch nur im Scherz gesagt, Lyrik ist eine Perversion der Sprache. Aber sind nicht eine Vielzahl der als Gedichte firmierenden Texte, die da zu Hunderttausenden herausgepresst und auf die unbedarfte Menschheit losgelassen werden, recht einfach gestrickt? Gibt es da nicht selten etwas, das einen irritiert, begeistert und verrückt? Wahrscheinlich war das schon immer so, und doch haben es einige Gedichte geschafft, sich im allgemeinen Bewusstsein festzusetzen. Vielleicht hat sich die zeitgemäße Lyrik einfach verlagert und ist überall zu suchen, nur nicht im wohlbehüteten kleinen Biotop des Literaturbetriebs. Vielleicht wird die unsere Zeit überdauernde Lyrik von Rappern, Bloggern, Zwitscherern oder Programmierern geschrieben?

Ich hatte also Bedenken, und nicht alle wurden sofort aus dem Weg geräumt. Im Gegenteil, die ersten Gedichte meiner Lektüre, ich begann mit Gomringers Hauptwerk Mein Gedicht fragt nicht lange, ließen mich eher ratlos zurück. Bin ich schon abgestumpft, gar nicht mehr in der Lage, mich auf ein Gedicht einzulassen? Bin ich auch schon ein alter, nur noch am Knackigen interessierter Knacker?

Aber war nicht bei Professor Möbus, der mir diese Laudatio angetragen hatte, von einem Luftgeist mit einem Schalk im Nacken, von Sprachfuror und rhythmischen Explosionen die Rede gewesen? Einen Moment lang überlege ich, ob diese Gedichte vielleicht vom Vater, dem alten Gomringer, stammen, der in einer Anwandlung von Altersmilde seiner vielleicht aufgestauten Sehnsucht nach lyrischem Ich und Authentizität nachgegeben hat? Zum Entsetzen aller. Damit er seinen tadellosen Ruf als Ahnherr aller konkreten Poeten nicht ruiniert, wurde vom Familienrat beschlossen, die Tochter zu opfern. Sie muss ihren Kopf hinhalten im Schlachthof Literaturbetrieb.

Ich war aber grundsätzlich gewillt, Nora Gomringer zu mögen. Also las ich weiter. Das heißt, ich blätterte zurück und sah, dass diese Gedichte aus dem Jahr 2000 stammten, also das Werk einer 20-jährigen sind. Puh, atmete ich erleichtert auf. Als Frühwerk kann man das gelten lassen.

Aber dann, 2006, plötzlich ist alles da, was Herr Möbus lang in seiner Schleife hatte, plötzlich scheint Nora Gomringer ein Knopf aufgegangen zu sein, als hätte sie sich freigemacht vom schweren frugalen Erbe ihres Vaters, als wäre sie aufgesprungen aus dem Rollstuhl und hätte gemerkt, wie gut sie ihre Wörterfüße tragen. Sie hat wohl die wesentliche Erfahrung gemacht, dass sich ein Text auf einer Bühne viel schwerer behaupten lässt als auf einem weißen Blatt Papier. Sie ist in die Szene der Slam Poetry gehüpft und nicht wie viele andere mit dem erwartbaren, dem Amerikanischen abgelauschten Wortstakkato wieder aufgetaucht, sondern mit ganz etwas Eigenem. Neben der Poetry- Slam-Bewegung muss sie auch den feinen Textgespinsten der Friederike Mayröcker begegnet sein, jener dunklen österreichischen Nachtmotte, die so lange am Leben geblieben ist, bis man ihr den Büchner-Preis verliehen hat, und wohl noch so lange weiter schreiben und sich im Meer ihrer Zettelwirtschaft über Wortwasser halten wird, bis man ihr auch den Nobelpreis verleiht, sie sich für zahllose Elfriedes rächt. Die Mopsmannwitwe Mayröcker wird nämlich so lange ihre feinen Lyrikgespinste über die Welt weben, bis endlich einmal jemand Friederike oder Fritzi zur Jelinek sagt.

Feine Lyrikgespinste

Doch zurück zu Gomringer. Plötzlich sind da Rhythmus und Melodie, ein, wie es immer wieder heißt, Gesang ohne Musik, plötzlich ist da eine von allen, na ja, vielleicht nicht ganz von allen, aber zumindest von den meisten Zwängen, Konventionen und Erwartungshaltungen befreite Dichterin, die seither - und das zu Recht - bestaunt, bewundert und beklatscht wird. Plötzlich nimmt sie einen an der Hand, so wie sie einen Satz nimmt, oft einen beiläufigen, den sie dann ausführt, einen hineinführt in eine kleine Geschichte. Die Sprache ist immer noch einfach. Es ist so, als hätte sich Nora Gomringer die großen Stauneaugen ihrer Zwanzigjährigengedichte bewahrt.

Nora Eugenie Gomringer. Nora ist wie die Quintessenz aus Nortrud, ihrer Mutter, der Wissenschaftlerin. Und Eugenie (ich weiß nicht, ob der Name auch im Taufstein steht oder ob sie ihn sich selbst verliehen hat) ist ja nichts anderes als die weibliche Form von Eugen, ihrem Vater. Acht Kinder hat der gezeugt, so, als ob er auch seine Familienplanung nach einem konkreten Gedicht organisiert hätte:

Junge Junge Junge Junge Junge Junge Junge Mädchen.

Wobei zu untersuchen wäre, ob die sonst so sparsamen, formal strengen konkreten Dichter privat einen speziellen Hang zur Unruhe hatten und daher besonders verschwenderisch mit ihrem Erbgut umgegangen sind. Eugen Gomringer hat mir einmal erzählt, dass sein "Schweigen" auch von den langen Wanderungen durch das bolivianische Hochland, wo er aufgewachsen ist, beeinflusst worden ist. Ein "Schweigen", das die Dichtung an einen Endpunkt geführt hat. Und dass es nun mit Nora ausgerechnet seine eigene Tochter ist, die nicht nur ihn, den Vater, sondern auch den von ihm erreichten Endpunkt der Dichtung überwindet, indem sie unbekümmert aufspringt und scheinbar unbelastet drauflos schreibt (Mein Gedicht fragt nicht lange) und alles das mit einer scheinbar kindlichen Selbstverständlichkeit wieder nutzbar macht, was ihre Vatergeneration für unmöglich erklärt hat, ist nicht nur eine Krux, sondern zeigt auch, wie lebendig die Dichtung immer noch ist. Vielleicht wird man ja irgendwann nicht mehr von Konkreter Poesie, Postmoderne und Slam, sondern von der Gomringer-Epoche sprechen.

Zugänglichkeit, Einfachheit und Witz ihrer Gedichte machen Nora Gomringer nicht nur zu einer würdigen -Preis-Trägerin, sondern auch zu einer zeitgemäßen Nachfolgerin dieses Großmeisters der kleinen Form. Indem sie aus scheinbar banalen, alltäglichen Sätzen große Gedichte formt, gelingt ihr möglicherweise das, was alle Dichter wollen, aber selten nur erreichen, eine Poetisierung des Alltags. Und es gelingt ihr ohne Ginster und Levkojen, ohne hellenischen Bildungsstand.

Ich will ihnen noch ein Gomringergedicht mit auf den Weg geben, das mir für den Anlass passend erscheint:

 

Nußbaumederlob

Den Nußbaumeder haben sie gelobt

Wegen seiner bayrischen Dramatik und

Dem Wie-Franz-Xaver-Kroetz-Sein

Gut, Nußbaumeder, haben sie gesagt und

Ihre Münder an Stoffservietten gewischt

Die Cognacgläser gegen das Licht

Vom Starnberger See gehalten

Sie geschwenkt und guter Cognac gesagt

Den Nußbaumeder haben sie dann vergessen

Weil das Essen gut und der Rock der Bedienung

Vielleicht etwas kürzer war

Das Stück mit dem Gurkenflieger und den Polen

Haben sie gar nicht verstanden

Aber gelobt haben sie den Nußbaumeder

Weil er ein bayrischer Dramatiker ist

Und Bayern so einen braucht

 

Nur selten ist in den letzten 60 Jahren auf Deutsch so unvermittelt, direkt und unpeinlich gedichtet worden wie bei der Gomringer. Ja, sie verdient sich diese Anrede. So wie wir selbstverständlich von der Bachmann oder der Mayröcker reden, dürfen wir es auch von der Gomringer. Oder Gomrin gerin? Sie hat allerdings, zumindest scheint es so, einen großen, ja für Lyriker fast unverzeihlichen Nachteil: Sie leidet nicht. Im Gegenteil, auf Fotos grinst sie oder lacht. Ist das nicht ungehörig? Haben nicht gerade Lyriker ihr anämisches Gesicht in den knochigen Händen zu vergraben und dreinzusehen, als hätten sie eine hartnäckige Harnwegsentzündung, gepaart mit einem Bandscheibenvorfall und Migräne? Nein, haben sie nicht, die Gomringerin, dieses schalkhafte Wortspringinkerl, dieser Lyrikerin gewordene Pumukl, beweist das Gegenteil. Sie strahlt etwas aus, was sie mit ihren Gedichten macht: Freude.

Also sorgen Sie dafür, dass ihr kein Nußbaumederschicksal droht, einen Dichter, den wir übrigens alle auch sehr schätzen. (Franzobel, Album, DER STANDARD, 28./29.4.2012)