Die deutsche Sportlerin Ariane Friedrich, im Hauptberuf Polizistin, erhielt auf ihrer Facebook-Seite ein obszönes Foto plus beleidigendem Text eines Mannes. Genervt von früheren Vorfällen dieser Sorte, stellte sie den vollen Namen und den Wohnort des Mannes auf ihre Seite. Ergebnis: einerseits Beifall, andererseits ein shitstorm im Netz, wo sie von nicht wenigen beschimpft wurde, weil sie ihren sexuellen Belästiger "an den Pranger" gestellt hatte.
Rechtlich ist diese Selbstjustiz - oder Notwehr - nicht unproblematisch. Was aber das gesellschaftliche Klima betrifft, ist der Vorfall bezeichnend: Sehr viele Zeitgenossen, auch und vor allem im Netz, glauben inzwischen, das alles geht und alles erlaubt sein muss - ärgste Rüpeleien, Beleidigungen, Verleumdungen, strafrechtlich relevantes wie Stalking, sexuelle Beläs tigung und Cyber-Mobbing. Selbstverständlich im Schutz der Anonymität.
Es sind nicht nur Kretins und psychisch Labile, die das vermeintliche Recht auf öffentliche Beschimpfung in Anspruch nehmen und verteidigen. Es ist eine ganze Schicht von Bürgern, die das für ganz normal halten. Sie sind in einer Atmosphäre der öffent lichen Pöbelei aufgewachsen und haben das verinnerlicht.
Den üblen Ton gesetzt haben die Krawallmedien und die Krawallpolitik, vor allem vom rechten, populistischen Rand. Vor zwanzig Jahren brachte Jörg Haider die "'Parasiten', 'parasitäre Elemente' und 'Filzläuse, die mit Blausäure bekämpft werden sollten', 'Taugenichtse', 'Plünderer', 'Ganoven', 'Hochverräter', 'Wiederholungstäter', 'Wirtschaftsverbrecher', 'Landesverräter', 'Fall für den Staatsanwalt', 'Lügenpack', 'Abzocker', 'Ehrlose', 'politische Prostituierte'" in die politische "Debatte" ein. Strache hat das, unter besonderer Berücksichtigung der "Ausländer", noch vergröbert.
Inzwischen haben sich aber viele, davon sehr viele Junge, an diesen Ton gewöhnt und halten das für eine zulässige Form der Auseinandersetzung. Zum Teil ist dieses Denken schon in die akademisch-juristische Elite eingedrungen. Der Herausgeber der Tageszeitung "Österreich", Wolfgang Fellner, wurde freigesprochen, als er den "Kurier"-Chefredakteur Helmut Brandstätter als "journalistischen Bettnässer" bezeichnete (der "Kurier" hat die Methoden thematisiert, mit denen Wolfgang Fellners "Österreich" Inserate von SPÖ-nahen Institutionen keilte). Der Richter meinte, das sei zwar eine Beleidigung, aber er könne ein "Tatsachensubstrat" erkennen. Muss scharfe Augen haben, der Mann.
Die Sprecherin der deutschen Piratenpartei hat sich zurückgezogen, weil sie die Pöbeleien der eigenen Gemeinde nach einem harmlosen Vorschlag zur Professionalisierung nicht mehr aushielt. "Der Ton war unter irdisch, ich ging zwei Tage nicht mehr zum Computer". Sie hatte auch antisemitische Hassmails bekommen. Und: "Die größere Bedrohung für die Freiheit im Netz sind nicht Vorratsdatenspeicherung, Zugangsbeschränkung oder Acta - sondern der Umgang miteinander".
Der Shitstorm, der rhetorische Hooliganismus oder auch die schlichte österreichische Variante des Keifens und Keppelns ist zur (von vielen) akzeptierten Norm geworden. Zivilisierte Debatte ist uncool oder, schlimmer, als Form der Auseinandersetzung in Vergessenheit geraten. Es wird auch wieder ein Umschwung kommen, aber im Moment ist die neue Rüpelhaftigkeit obenauf. (Hans Rauscher, DER STANDARD, 28/29.4.2012)