Rovinj - Rund 400 Kulturen leben in Europa in 49 Nationalstaaten - also durchschnittlich acht Minderheiten in jedem Staat. Angesichts dieses kulturellen Reichtums sehe man aber ein "zunehmendes Unvermögen, das Überleben der Sprachen und Kulturen ohne Chauvinismus zu gewährleisten", konstatiert der Klagenfurter Verleger Lojze Wieser in der von ihm verlegten Publikation Phonart - The Lost Languages of Europe. Das Buch ist seit letztem Wochenende im Buchhandel erhältlich. Es ist das Programmbuch zum gleichnamigen zweijährigen Projekt Phonart, das von der EU, Österreich, Serbien, Tschechien, Kroatien und Sponsoren mit insgesamt rund 390.000 Euro getragen wurde. Künstler aus den vier Staaten sowie der Schweiz, den USA und Ungarn näherten sich dieser Sprachenvielfalt an.
Vor wenigen Tagen durften Besucher der Abschlussveranstaltung dieser Grenzen und Sparten überschreitenden Arbeit das Buch druckfrisch im Hotel Monte Mulini in Rovinj in Händen halten. Auch das Manifest der Phonart-Koordinatorin und Violinistin Mia Zabelka ist darin enthalten. Demnach ist Phonart weder als Klangkunst noch als Literatur oder Musik zu verstehen. Eher eine Brücke dazwischen.
Äther und Meeresküste
Dabei werden laut Manifest "uralte Sprach- und Musiktraditionen als Kunstmedium" verwendet und mit zeitgenössischer Kunst in Beziehung gesetzt. Neben dem Äther (verschiedene Radiosender, auch Ö1) waren Festivals in Serbien, Wien und das steirische Klang-Haus Austragungsorte von Phonart.
Der Abend an der istrischen Küste, ein sogenanntes "Cyber Dinner", bei dem der Küchenchef des Hotels, Tomislav Gretic, auch seine Kochkunst als Kommunikationsmedium zelebrierte, war ein repräsentativer Querschnitt des Projektes. Die Grupa Batana sang traditionelle Lieder aus Istrien selbst, wo in wenigen Gemeinden noch die aussterbende Sprache Istrorumänisch gesprochen wird. Der ungarische Musiker und Medienkünstler Tibor Szemzö spielte seine Komposition Tractatus, die sich - von Ludwig Wittgensteins Tractatus Logico-Philosophicus inspiriert - auf mehreren Ebenen mit Sprache auseinandersetzt. Szemzö summt zu minimalistischen Klängen seine Melodie wie ein Schlaflied, während Erzähler in verschiedenen Sprachen aus dem Traktat zitieren.
Projektkoordinatorin Mia Zabelka spielte Auszüge ihrer jüngsten CD mit dem Titel M und begleitete die legendäre amerikanische Sängerin, Dichterin und Schauspielerin Lydia Lunch bei deren Performance. Lunch war an diesem Abend die Vertreterin der spezifisch weiblichen Sprache.
Der serbische Trompeter Marko Markovic machte nicht nur solo mit Balkan-Brass Stimmung, sondern gesellte sich am Ende des Abends auch noch spontan zur Gypsy Guitar Extravaganza von Harri Stojka und Claudius Jelinek und ihrer Sängerin Jelena Krstic. Neben "normalen" Konzerten gab es auch Experimente wie jenes der serbischen Komponistin Svetlana Maras. Sie ließ Künstlerkollegen die Augen verbinden und stattete sie mit Küchenutensilien aus. Aus den Geräuschen, die jeder für sich allein damit produzierte, mischte Maras eine zufällig entstandene "Tischmusik". Das alles fand zeitversetzt über Radio Pula ein breiteres Publikum als den leider relativ exklusiven Kreis im edlen Hotel, das auch Sponsor war.
Es sei nicht das Ziel gewesen, "Sprachen, die verlorengehen, unbedingt am Leben zu halten", sagt Zahra Mani, eine der Phonart-Organisatorinnen, " sondern auch auf künstlerische Weise dieses Sterben zu beobachten, festzuhalten und gegebenenfalls künstlerisch zu bearbeiten". Was dabei herauskam, sind jedenfalls ziemlich lebendige Begegnungen. (Colette M. Schmidt/DER STANDARD, 30.4. 2012)