Ein Plakat der lokalen Occupy-Organisation von Toronto zum 1. Mai 2012. Bekannte Symbole und  Slogans der Arbeiterbewegung werden von den neuen Protestbewegungen genutzt.

Foto: Occupy Toronto
Graphik: Standard

Die neuen Protestbewegungen wollen sich von etablierten Parteien abgrenzen.

 

Sie wollen aus Norden, Osten, Süden, Westen mit Wohnwagen direkt in das Finanzviertel von Los Angeles fahren, um den "Fluss des Kapitals" lahmzulegen und die Anliegen von "99 Prozent" der Bevölkerung anzusprechen. Die Bewegung "Occupy May First" hat diesen Dienstag große Pläne. Im vierten Jahr der globalen Wirtschaftskrise versuchen die neuen sozialen Bewegungen auch den historischen Kampftag der Arbeiterbewegung für sich zu nutzen. "Jede Bewegung profitiert davon, dass es eine Geschichte gibt", bemerkt der Politikwissenschaftler Swen Hutter von der Universität München. Auch wenn sich Occupy-Aktivisten sicherlich von den Parteileuten, die zu den traditionellen Maiaufmärschen gehen, abgrenzen wollen. In Spanien forderten die Indignados ("Empörte") im Vorjahr sogar dazu auf, die etablierten linken Parteien nicht mehr zu wählen. Sie sind fest überzeugt, dass das politische System und die Wirtschaft korrumpiert sind, die Demokratie erodiert ist.

"Den Sozialdemokraten wird auch die Liberalisierung der Finanzmärkte angelastet", sagt Hutter. Parteien und Gewerkschaften kommen nicht an bei den Bewegungen des globalisierten Misstrauens, obwohl deren Themen längst Mainstream sind. Sogar die deutsche Kanzlerin Angela Merkel zeigte Verständnis für die Forderungen von Occupy. Und Barack Obama widmete seine letzte "State of the Union"-Rede dem Thema Gerechtigkeit.

Offenbar ist aber auch die etablierte Linke schwer mit der neuen Protestkultur vereinbar. Der Wiener Historiker und 68er Fritz Keller kritisiert die Gruppierungen als "Selbstdarstellungsszene" und Modeschau von Individualisten. "Individualisierte Proteste können keine Kontinuität schaffen", glaubt Keller. Der Bruch sei aber bereits in den 1960ern passiert, "als Protest Festivalcharakter" erhielt. Im Gegensatz dazu verliefen die Maiaufmärsche in Wien noch lange in militärischer Ordnung. Besucher aus Deutschland reisten in den 1960ern an, um zu sehen, wie hier Arbeiterkulturformen erhalten geblieben waren: Gruppen in blauen Hemden veranstalteten Fackelzüge.

Heute treibt die Krise Mittelschichtsmitglieder zum alternativen Aufstand. "Das sind auch Aktivisten, die in den 70ern und 80ern, in der Studenten- und Friedensbewegung und in der Globalisierungskritik dabei waren. Occupy und die Indignados haben es aber geschafft, Leute auf die Straße zu bekommen, die vorher noch nicht dabei waren", sagt die deutsche Soziologin Priska Daphi von der Humboldt-Universität zu Berlin. Das habe auch mit der offeneren Struktur der Bewegungen zu tun.

Zu den ideologisch tonangebenden Gruppen gehört die "15. Mai Bewegung", die in Spanien Zigtausende mobilisierte. Occupy begann damit, dass die kanadische konsumkritische Stiftung Adbusters dazu aufrief, am 17. September 2011 in Lower Manhattan, "Zelte, Küchen, friedliche Barrikaden" zu bauen. Die Inspiration kam vom Tahrir-Platz in Kairo. "Die Besetzung wurde als primäres Protestrepertoire eingeführt", so Daphi. Occupy verwendet Versatzstücke von anderen, etwa die "Anonoymous"-Maske der Hacker. Die Zeichensprache kommt aus Grassrootsbewegungen (siehe Grafiken), wie auch das "Human microphone": Weil in den USA Megafone bei solchen Versammlungen verboten sind, werden Sätze der Redner von Umsitzenden wiederholt, damit der ganze Platz sie hören kann.

In Ländern,wo sich der Klassenkonflikt stärker erhalten hat (Italien, Spanien) und in Griechenland gehen auch tatsächlich Betroffene auf die Straße. Zentral für alle ist die Forderung nach einer Regulierung der Finanzmärkte nach dem Motto: "Wir zahlen nicht für eure Krise." Hauptmotiv ist ein neues "Krisenbewusstsein, das sich aus dem Risiko speist" (© Ulrich Beck). Es geht nicht nur um die soziale Frage, sondern um die Demokratie. Hutter spricht von einem "diffusen Wunsch" nach Mitsprache. "Da ist es für etablierte linke Parteien viel schwieriger als in den 70er- und 80er-Jahren. Denn die Gleichstellung der Frau kann man im nationalen Raum fordern. Bei transnationalen Fragen kann die Politik nicht so stark eingreifen", sagt er. Trotzdem: "Adressat der Proteste sind wieder verstärkt die Regierungen im eigenen Land", sagt Daphi. "Das liegt auch an einer gewissen Desillusionierung von globalisierungkritischen Aktivisten, was die Mitbestimmung in internationalen Institutionen betrifft." Und angesichts dessen, dass die Regierungschefs in der EU wieder mehr die Zügel in der Hand halten, sei der Fokus auf den Nationalstaat vielleicht gar nicht so verkehrt, sagt Hutter. (Adelheid Wölfl /DER STANDARD, 30.4.2012)