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Publicity unerwünscht: Ein chinesischer Soldat vor der US-Botschaft in Peking wehrt Fotografen ab.

Foto: EPA/HOW HWEE YOUNG

Der Blinde stolperte 20 Stunden über Feldwege und Gräben, musste durch einen Fluss waten. Unzählige Male fiel er hin, rappelte sich wieder auf. Dann erst traf er auf die mit ihm verabredeten Fluchthelfer. Eine Woche, nachdem der Bauernanwalt Chen Guangcheng seinem Hausarrest und einer brutalen Dorfgefangenschaft entfloh, über die Lokalfunktionäre wie in feudalen Zeiten wachten, werden Details bekannt, wie er seinen Häschern entkam.

Chen erzählte sie nach seiner Ankunft im 300 Kilometer entfernten Peking seinem Freund und Dissidenten Hu Jia. "Seine Flucht dauerte drei Tage", berichtete Hu Jia der South China Morning Post. Er bestätigte als Erster, dass der entflohene Bauernaktivist Chen in Sicherheit unter Schutz der US-Botschaft sei. Kurz darauf holte die Polizei am Samstag Hu ab. Bis zum späten Sonntagabend hatten sie ihn noch nicht freigelassen.

Internet-Idol

Hu gehörte offenbar zu dem Untergrundnetz von Bürgerrechtsaktivisten, die Chen zu entkommen halfen, darunter auch die US-Hilfsorganisation China Aid. Mehrere Aktivisten sind inzwischen festgenommen, unter ihnen auch die Nankingerin He Peirong. Sie soll Chen mit ihrem Auto nach Peking gebracht haben.

Chen hatte den Berichten zufolge sein Entkommen lange vorbereitet. Der im Alter von fünf Jahren nach einer Krankheit Erblindete sei Sonntag vor einer Woche nachts über die Außenmauer seines Hauses geklettert. Er umging 28 Kontrollstellen der Dorfwachen. Ob ein Verwandter ihn begleitete, wurde nicht bekannt.

Die dramatische Flucht hat den 40-Jährigen, der mit seiner Blindenbrille zum Internet-Idol wurde, für zehntausende Mikroblogger nun zur Kultfigur gemacht. Das Schicksal des "Barfuß-Anwalts", der sich die Rechtskenntnisse, mit denen er Bauern hilft, selbst beibrachte, ist ein Stoff, aus dem Filme gemacht werden. "Das ist wie Hollywood-Kino" schrieb der chinesische Gelehrte Yuan Weishi in seinem Blog. "Das Volk klatscht voller Freude Beifall. Wenn unsere Funktionäre noch Verantwortungsgefühl besitzen, sollten sie sich fragen, warum das so ist."

Brenzlige Themen

Chens Zuflucht in der US-Botschaft, die amerikanische Diplomaten weder bestätigen noch dementieren wollen, hat hinter den Kulissen diplomatisches Tauziehen zwischen Peking und Washington ausgelöst. Sie kommt zu einem kritischen Zeitpunkt. Vertreter beider Regierungen treffen sich am Donnerstag in Peking zum "politisch-wirtschaftlichen Strategiedialog", ihrem wichtigsten bilateralen Gipfel. Außenministerin Hillary Clinton und Finanzminister Timothy Geithner leiten für die USA die Gespräche, die Staatschef Hu Jintao eröffnet.

Auf der Tagesordnung stehen brenzlige Themen, bei denen beide Supermächte nach Gleichklang streben, von Syrien bis zum Iran. Sie wollen eine Antwort auf den drohenden neuen Atombombentest in Nordkorea finden. Der Fall des Dissidenten passt nicht auf die Agenda der USA und China, die zudem beide 2012 vor innenpolitisch brisanten Neuwahlen ihrer Führer stehen. Nach außen tun sie, als wäre nichts geschehen. Peking hat ein Berichtsverbot für alle offiziellen Medien verhängt. (Johnny Erling aus Peking, DER STANDARD, 30.4.2012)