Istanbul - Die Türkei gibt sich eine neue Verfassung, die vierte seit Bestehen der (1923 gegründeten) Republik. In Ankara tritt an diesem Dienstag ein Sonderausschuss des Parlaments zusammen, um mit der Ausarbeitung des Textes zu beginnen. Er soll die derzeitige Verfassung ersetzen, die 1982 unter der Militärherrschaft erlassen wurde und viele Freiheitsrechte einschränkt. Der neue Text soll bis Ende des Jahres fertiggestellt sein und den Bürgern in einer Volksabstimmung vorgelegt werden. Mit Spannung wird erwartet, ob sich die vier im Parlament vertretenen Parteien trotz erheblicher Differenzen auf einen gemeinsamen Text einigen können.

Dem sogenannten Einigungsausschuss gehören je drei Abgeordnete der vier Fraktionen an. Die Politiker der islamisch geprägten Regierungspartei AKP (Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei), der säkularen sozialdemokratischen CHP (Republikanische Volkspartei), der rechtsnationalistischen MHP (Nationaler Aufbruch) und der Kurdenpartei BDP (Partei für Frieden und Demokratie) haben seit dem Herbst unter Vorsitz von Parlamentspräsident Cemil Cicek mehrere tausend Vorschläge von Experten, Verbänden und Normalbürgern gesammelt. Dabei wurden auch Vertreter der christlichen Minderheiten, unter ihnen der Ökumenische Patriarch Bartholomaios I., angehört. Zudem studierten die Abgeordneten die Verfassungen von 60 anderen Ländern.

Verfassung steht EU-Mitgliedschaft im Weg

Zwar sind sich die Parteien einig, dass die von den Militärs nach dem Putsch von General Kenan Evren diktierte Verfassung nicht mehr zur modernen Türkei passt und einer angestrebten EU-Mitgliedschaft im Weg steht. Über die vorzunehmenden Änderungen herrscht jedoch Streit. Zu den besonders umstrittenen Themen gehört der Kurdenkonflikt: Hier fordert die BDP mehr regionale Selbstbestimmung, während die MHP vor Angriffen auf die nationale Einheit warnt.

Streit gibt es auch über die Definition des Laizismus und darüber, ob die Wahrung des Lebenswerks von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk als Staatsziel in der neuen Verfassung verankert werden soll. Einige Oppositionspolitiker mutmaßen zudem, dass Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan die Einführung eines Präsidialsystems zum eigenen Vorteil vor Augen hat.

Die Atatürk-Verfassung orientierte sich in ihren Grundzügen an der französischen der Dritten Republik mit einer klassischen parlamentarischen Struktur, welche allerdings erst 1950 mit der Einführung eines Mehrparteiensystems wirksam wurde. Nach dem Militärputsch von 1960 gegen den autoritär regierenden Premier Adnan Menderes, der hingerichtet wurde, erließen die neuen Machthaber mit General Cemal Gürsel an der Spitze 1961 eine demokratische parlamentarische Verfassung mit einem Zweikammersystem und einem Verfassungsgerichtshof nach deutschem Vorbild. Ein mit umfangreichen Vollmachten ausgestatteter Nationaler Sicherheitsrat als oberstes Organ in Fragen der inneren und äußeren Sicherheit sicherte der Militärführung eine Kontrollfunktion, insbesondere zur Wahrung der kemalistischen Grundprinzipien der Trennung von Staat und Religion.

Als "Hüter der Verfassung" kamen die Staatspräsidenten - nach Gürsel General Cevdet Sunay und Admiral Fahri Korutürk - aus den Reihen der Streitkräfte. Als das Parlament 1980 in Dutzenden von Wahlgängen keinen Staatschef zu wählen vermochte, putschte das Militär unter General Evren und erließ ein Parteienverbot. 1982 fand ein Plebiszit statt, mit dem gleichzeitig eine neue Verfassung gebilligt und Evren im Amt des Staatsoberhauptes bestätigt wurde. Das Parlament besteht seither nur noch aus einer Kammer (Große Nationalversammlung), die den Staatspräsidenten wählt. Der Nationale Sicherheitsrat hat mittlerweile seine Befugnisse verloren, da die Vorherrschaft des Militärs den Kriterien für einen angestrebten EU-Beitritt des Landes zuwiderlaufen. (APA, 30.4.2012)