"Wenn du sie in ein Muster presst, schadet es eher der Kreativität. Und Kreativität zu fördern ist in unserer Akademie ein klares Ziel."

Foto: derStandard.at/Schaffer

Die Nachwuchsakademie der Wiener Austria. Einblicke in einer Ansichtssache.

Foto: derStandard.at/Schaffer

Wien - Die Basis für österreichische Fußball-Erfolge soll in den heimischen Akademien gelegt werden. Jene der Wiener Austria öffnete im Juni 2010 in der Laaer-Berg-Straße ihre Pforten. Sportlicher Leiter ist Ralf Muhr, er war zuvor bereits an der Frank-Stronach-Akademie in Hollabrunn tätig. Tom Schaffer und Philip Bauer trafen ihn zum Gespräch.

derStandard.at: Mentalcoach Markus Salhofer hat kürzlich in einem Interview schwere Vorwürfe gegenüber österreichischen Fußball-Akademien erhoben, auch gegenüber Ihrer: Talente sollen dort kaputt gemacht werden.

Muhr: Wenn ich mir die Überschrift des Artikels ansehe ("Unsere Akademien: Der Grund allen Übels?", Anm.), ist das ein Wahnsinn angesichts dessen, was dank der Akademien Positives passiert. Die Dinge, die Markus Salhofer in diesem Interview behauptet, stimmen einfach nicht. Ich habe Salhofer als Mentaltrainer immer hoch angesehen, habe ihn auch fünf Jahre in der Akademie in Hollabrunn gehabt. Da klingt der Frust durch, dass er keine Betätigung als Mentaltrainer bei einem Verein oder dem ÖFB hat. Am meisten hat mich die Anschuldigung getroffen, es habe Selbstmordgedanken bei Spielern gegeben. Wenn es so was wirklich gab, dann muss man die Verantwortlichen, Eltern und Trainer, sofort informieren. Mir ist da gar nichts bekannt. Solche Behauptungen aufzustellen, das ist schon starker Tobak.

derStandard.at: Ein Vorwurf lautet, ein Spieler der Austria-Akademie habe sich bei einem Straftraining verletzt. Ist diese Behauptung aus der Luft gegriffen?

Muhr: Der Spieler war bei einem Training mit einer Entscheidung des Trainers nicht einverstanden und hat sich ungebührlich verhalten. Der Trainer schickte ihn daraufhin zum Beruhigen in die Kabine. Eine ganz normale Geschichte, damit war das auch gegessen. Er hat dann einige Tage später ganz normal einen Intervall-Lauf gemacht, kein Straftraining. Das eine hatte mit dem anderen nichts zu tun. Auch der Spieler bestätigt das. Diese Verletzung, eine Schambeinentzündung, passiert auch nicht aufgrund eines Trainings, sondern bei einer langfristigen Fehlbelastung.

derStandard.at: Ein weiterer Vorwurf lautet, dass das Verhältnis zwischen Spielern und Trainern in den Akademien oft sehr militärisch und autoritär ist. Wie würden Sie dieses Verhältnis beschreiben?

Muhr: Militant geht es in der Austria-Akademie sicher nicht zu, sondern sehr kollegial. Ich achte auch darauf, dass die Trainer einen sehr offenen, freundschaftlichen Zugang zu den Burschen haben. Natürlich muss auch immer wieder der Ernst dahinter sein, damit die Leistung vorangetrieben wird.

derStandard.at: Welchen Stellenwert hat dabei Disziplin?

Muhr: Es gehört ein gewisser Rahmen her: Pünktlichkeit, Trainingseinstellung - einfach das professionelle Arbeiten an einem Ziel. Natürlich hat jeder seine Eigenheiten und Freiheiten, das muss man berücksichtigen. Die Jugendlichen sind heute ganz anders als vor 20 Jahren. Sie setzen sich mit einem Trainingsprogramm auch ganz anders auseinander, sind, was das betrifft, viel gescheiter. Mit einem Überhang an Disziplinierung könntest du bei ihnen eh nichts mehr erreichen. Wenn du sie in ein Muster presst, schadet es eher der Kreativität. Und Kreativität zu fördern ist in unserer Akademie ein klares Ziel.

derStandard.at: Mit welchen Methoden wird darauf geschaut, dass die Spieler am Feld nicht nur Fehlervermeidung betreiben, sondern eigenverantwortliche Entscheidungen treffen?

Muhr: Beim Training nimmt man sich als Trainer oft bewusst zurück oder übergibt den Spielern ganz die Verantwortung über die Einheit oder die Spielanalyse, lässt sie sich auch gegenseitig analysieren. Vor dem Training machen sie oft schon selbstständig Technikübungen oder Wettbewerbe. Nach dem Training in der Kraftkammer - das auch sehr wichtig ist - machen sie viel für sich selbst. Auch wenn es natürlich eine gewisse Anleitung gibt.

derStandard.at: Haben Spieler im Jugendbereich mehr Freiheit zum Risiko oder werden Fehler auch schnell bestraft?

Muhr: In der Bundesliga geht es ums nackte Überleben und den Job des Trainers. Das liest man ja auch bei uns aktuell vor jedem Spiel. In der Akademie ist das nicht so. Resultate sind hier noch nicht so wichtig, da können auch Fehler passieren. Aber natürlich will jeder Trainer und Spieler gewinnen - das soll ja auch gefördert werden. Das war vielleicht in unserer Jugend noch eher selbstverständlich als jetzt. Wenn sie heute ein Spiel verlieren, geht es ihnen oft sonst wo vorbei.

derStandard.at: Viele Spieler schaffen es nicht zum Profi. Der Konkurrenzkampf in der Akademie ist vermutlich recht groß.

Muhr: Das ist ein normaler Prozess im Leistungssport. Das sollte jedem Burschen und Elternteil klar sein. Es gibt eine strenge Selektion. Das ist ja eine privilegierte Gruppe, die in den Genuss dieser Ausbildung kommt. Aber selbst da schaffen die wenigsten den Sprung zum Profi. Zwar verdienen viele, die aus diesem System kommen, Geld mit Fußballspielen - einige wenige sehr viel -, aber der Großteil wird nicht über einen längeren Zeitraum davon leben können. Deshalb ist es wichtig, den Burschen in der Ausbildung eine gewisse Selbsteinschätzung beizubringen. Es ist für mich im Moment immer wieder erschütternd, wie falsch sich die Spieler und ihr Umfeld einschätzen. Bei den Eltern ist die Wahrnehmung natürlich selektiv, aber auch bei Beratern und Managern passieren völlig falsche Analysen. Der Trainer wird dabei oft als Hindernis gesehen, nicht als Begleiter, der auf die Ausbildung bedacht ist.

derStandard.at: Wie begegnet man dem?

Muhr: Man muss diese Selbstreflexion öfter zulassen und die Spieler auch danach fragen. Man muss ihnen zum Beispiel per Videoanalyse zeigen, was gut und was falsch war. Die subjektive Wahrnehmung und die Fakten sind da oft unglaublich weit auseinander.

derStandard.at: Ist Einsichtigkeit ein Qualitätsmerkmal?

Muhr: Kritikfähigkeit ist absolut ein Qualitätsmerkmal. Viele denken sich, dass du ihnen einen kompletten Schwachsinn erzählst. Sie sagen dir das vielleicht nicht so, aber man merkt es ja auch an der Körpersprache. Oft sind sie patzig.

derStandard.at: Autoritätspersonen kommen bei Pubertierenden nicht immer gut an.

Muhr: Natürlich. Aber man kann ja auch immer die guten Beispiele hernehmen wie David Alaba und Aleksandar Dragovic. Die waren einfach aufnahmefähiger für Kritik und gingen bewusster damit um als so manches "Pseudo-Talent".

derStandard.at: Wenn wir gerade von diesen beiden sprechen: An welchem Punkt weiß man, dass ein Spieler das Zeug zu Größerem hat?

Muhr: Bei manchen macht das Zusehen Freude, wie bei Alaba. Er und Dragovic hatten beide schon mit 14, 15 Jahren diese Professionalität und den unbedingten Siegeswillen. Der war bei Drago extrem ausgeprägt. Auch bei Regenerationsspielen wie Fußballtennis wollte er einfach gewinnen. Es braucht Talent, eine Riesenportion Ehrgeiz, Professionalität, Selbsteinschätzung und auch Demut. Bei David Alaba sieht man Letzteres trotz allem Lob ja heute noch.

derStandard.at: Ist es für die Spieler der Akademie auch wichtig zu sehen, welchen Weg man von hier aus gehen kann?

Muhr: Ja, das ist mit das Wichtigste. Du kannst gut ausbilden und erklären, aber wenn das vom Verein nicht gelebt wird, ist es schwierig. Ich kenne ja auch das andere Beispiel aus der Magna-Zeit mit der Stronach-Akademie, wo es keinen Weg in die eigene Mannschaft gab. Jetzt sehen die Spieler, dass sie eine Chance haben. Einerseits, über die Kampfmannschaft in der Bundesliga Fuß zu fassen - dort haben wir jetzt elf Spieler aus dem eigenen Nachwuchs, fünf davon Stammspieler -, andererseits über den Weg ins Ausland, wie bei Alaba.

derStandard.at: Messen Sie Ihren persönlichen Erfolg an der Anzahl der Spieler, die sich in den Profibetrieb eingliedern können?

Muhr: Ja. Das ist für mich der einzig zählbare Gradmesser. Es ist ein schönes Nebenprodukt, in der Akademie den einen oder anderen Meistertitel einzufahren, aber man sollte einzig und allein daran gemessen werden, wer es als Profi schafft. Und zwar nicht irgendwo als Kaderspieler, sondern wer in der Bundesliga oder im Ausland spielt.

derStandard.at: Gibt es dazu eine Bilanz Ihrer Akademie?

Muhr: Ja, die ist gut. Es ist gewaltig, wie viele Spieler den Sprung geschafft haben, die bei der Austria im letzten Jahrzehnt ausgebildet wurden. So um den Daumen fallen mir 20 Spieler ein, die im Moment Bundesliga oder im Ausland spielen. Wenn man dann die Erste Liga dazunimmt, sind es gleich noch einmal zehn mehr.

derStandard.at: Versucht man den Spielern klar zu machen, dass es auch ein Leben ohne Profifußball geben kann?

Muhr: Bei uns sind alle Spieler in einem Schulmodell. Wir legen viel Wert auf das duale System und sind sehr dahinter, dass sie das positiv absolvieren. Der Großteil macht das Gymnasium mit einer Matura. Jene, die schulisch etwas schlechter sind, machen eine Sport-Handelsschule und eine Stufe darunter die Fach-Mittelschule mit einer angehängten Lehre.

derStandard.at: Spielergewerkschafter Gernot Zirngast erzählte uns kürzlich, dass das Angebot zur Lehre von den Spielern nicht gut angenommen wird.

Muhr: Die Lehre wird bisher nicht angenommen. Es ist neben dem Training auch fast nicht möglich, einen Lehrherrn zu finden. Die Fachmittelschule dient - ähnlich der Polytechnischen Schule - zur Absolvierung der Schulpflicht. Im Nachhinein haben sie dann die Möglichkeit, diese Lehre als Sport-Lehrwart auf der Uni Wien zu machen. Das ist gut, weil es auch ein verwandter Bereich zur Akademie ist. Das ist ein neuer Weg, von dem ich überzeugt bin, dass er gut angenommen wird.

derStandard.at: Gibt es Spieler, die sportlich zurückstecken müssen, weil es in der Schule nicht so gut funktioniert? Oder hat man als Kicker die Matura ohnehin in der Tasche?

Muhr: Nein. Geschenkt wird sie dir sicher nicht. Gerade auch durch die neue Zentralmatura. Man muss sagen: Oft sind die, die hier im Sport wirklich gut sind, auch die, die sich in der Schule wirklich leicht tun. Alaba und Dragovic sind da als klassische Abbrecher das schlechteste Beispiel, weil sie sehr zeitig im Profibereich waren. Wir wollten Drago noch motivieren, als er bereits in der Europa League spielte. Er hat das dann nicht mehr gemacht. Ich verstehe das auch. Andere Beispiele wie Markus Suttner oder Alexander Gorgon waren neben der Profikarriere sensationell in der Schule.

derStandard.at: Kann man davon ausgehen, dass jeder Spieler, der in der Akademie aufgenommen wird, grundsätzlich das Potenzial zum Profi hat?

Muhr: Genau.

derStandard.at: Wann weiß man es mit Sicherheit?

Muhr: Das ist sehr unterschiedlich. Bei Alaba und Dragovic hast du schon mit zwölf gesagt: "Na, wenn der keiner wird, wer dann?" Das ist natürlich noch keine Garantie. Der Kinderfußball ist noch nicht so entscheidend, sondern der Übergang in den Profibereich.

derStandard.at: Man hat schon einiges von Sascha Horvath gehört (U17-Nationalspieler von den Austria Amateuren, Jahrgang 1996, Anm.). Wäre das einer, wo man sagt: Wenn alles normal läuft, wird er seinen Weg gehen?

Muhr: Ja. Wenn man sieht, wie der mit 15 Jahren in der Regionalliga spielt, dann bringt er alles mit. Seine Spielfreude, sein Durchsetzungsvermögen und seine Robustheit sind sehr bemerkenswert. Der David hat in diesem Alter - auch wenn das noch die zweite Liga war - sicher noch nicht so bestimmend im Erwachsenenfußball gespielt wie der Sascha jetzt. Und das im zentralen Mittelfeld! Es kommt nicht von ungefähr, dass auch schon viele internationale Top-Klubs an ihm dran sind.

derStandard.at: Wie unterscheiden sich die Akademien in Österreich eigentlich? Was macht Ihre besonders?

Muhr: Am Wochenende hatten wir das Spiel gegen Rapid, das waren überspitzt gesagt verschiedene Sportarten. Wir versuchen, Fußball sehr offensiv und frech nach vorne, mit vielen Kombinationen und Ballbesitz zu spielen. Wer will nicht wie Barcelona spielen? Wir versuchen das halt. Das ist bei anderen Akademien anders. Dazu muss man aber auch sagen, dass die dort die Qualität der Spieler in dieser Dichte nicht haben, um auch so zu spielen. Wir selektieren auch danach und schauen weniger, ob ein Spieler 1,85 Meter groß ist, sondern mehr auf das Spielvermögen. Dafür steht die Geschichte der Austria, das verpflichtet.

derStandard.at: Welche Ausbildung haben Ihre Akademietrainer? Sind sie auch speziell im Umgang mit Jugendlichen geschult?

Muhr: Ich habe mit der UEFA-Pro-Lizenz die höchste Ausbildung, ebenso wie Amateure-Trainer Herbert Gager, U18-Trainer Heimo Kump und unser Individualtrainer Andi Ogris. In der U16 und U15 haben die Trainer die UEFA-A-Lizenz. Sämtliche Assistenztrainer haben entweder die UEFA-A- oder -B-Lizenz. Alle haben dazu das Diplom für Elite-Kinder- und -Jugendtrainer. Mehr geht nicht. Eine Ausbildung heißt natürlich nicht, dass ich in der praktischen Umsetzung gut bin. Bei meinen Trainern passt es. Es sind natürlich unterschiedliche Typen, die auch jeder Spieler anders wahrnimmt. Der Ogerl sagt schon einmal: "Heast, das war a Schweinsflanke, was is mit dir?" Für den einen Spieler passt das, der andere bläst vielleicht einmal durch. Aber damit muss man auch umgehen lernen. Trotzdem zielen sämtliche pädagogischen Interventionen darauf, dem Spieler weiterzuhelfen. (lächelt) Ein schöner Satz, gell?

derStandard.at: Kritiker trauen dies Andi Ogris nicht zu - auch seine Vorbildfunktion wird in Frage gestellt.

Muhr: Ich musste mir das selbst auch ansehen. Dem kann ich nur entgegenhalten: Schaut euch ein Training an, wie er das lebt. Er hat als Spieler alles erlebt und erreicht. Auch als Persönlichkeit hat er sich seine Hörner abgestoßen und weiß, dass es abseits des Feldes Probleme geben kann. Vielleicht ist er für Jugendliche, die eine gewisse Orientierung brauchen, genau deshalb einer, der sie in die richtige Richtung treiben kann. Sein Umgang und Zugang sind top. Es funktioniert. Ich will es aber auch nicht jetzt im vierten Monat schon beurteilen.

derStandard.at: Wie viele Spieler betreut er als Individualtrainer?

Muhr: Wir haben pro Mannschaft vier bis fünf Elitespieler genannt, für die er zusätzlich zum Mannschaftstraining zuständig ist. Das ist ein Puzzleteil für den Erfolg, eine zusätzliche Hilfestellung zur Arbeit des Mannschaftstrainers. (Philip Bauer/Tom Schaffer, derStandard.at, 8.5.2012)