ModeratorIn: Liebe UserInnen, lieber Stefan Brändle. Herzlich willkommen im derStandard.at-Chat nach den "historischen Wahlen" in Frankreich.

Stefan Brändle: Bonjour aus Paris, wo gerade die Sonne scheint - obwohl der Grundtenor der Pariser Medien an diesem Montagmorgen lautet, für Hollande begännen heute die Schwierigkeiten...

Etienne24: Schreckte Sarkozy mit seinem rechten Kurs Wähler in der eigenen Partei ab?

Stefan Brändle: Sicherlich. Sogar Aussenminiser Alain Juppé, der an sich ein treuer und loyaler Begleiter Sarkozys war, kritisierte seine Anbiederungsversuche gegenüber dem Front National am Schluss unverblümt.

wombat5281: Welche Schwirigkeiten für Hollande sind die ärgsten?

Stefan Brändle: Er muss den Ausgleich zwischen dem linken Flügel seines neuen Regierungslagers - Linksfront um die Kommunisten, Grüne - und den Finanzmärkten finden. Die ersteren hat er schon am Sonntag zufriedenzustellen versucht, indem er betonte: "Je suis socialiste" - Ich bin Sozialist. Den Finanzmärkten hatte er in London erklärt: "I am not dangerous" - ich bin nicht gefährlich. Das wird ein dauernder Seiltanz.

Etienne24: Merkozy ist jetzt am Ende, aber kann F ohne D überhaupt? Hat Hollande überhaupt eine andere Wahl als mit Merkel zusammenzuarbeiten?

Stefan Brändle: Es stimmt, er hat gar keine andere Wahl. Die deutsch-französische Kooperation ist institutionell schon so weit fortgeschritten, dass er bis zu einem gewissen Grad gar nicht anders könnte, selbst wenn er wollte. Und vor allem: Hollande WILL mit Merkel zusammenarbeiten. Er hat Sarkozy zwar vorgehalten, dieser "unterwerfe" sich Deutschland. Aber das war Wahlrhetorik. In Wahrheit ist er meines Erachtens pro-europäischer und -deutscher eingestellt als Sarkozy. Bleibt die politische Differenz über den wirtschaftspolitischen Kurs...

Etienne24: Hollande hat angekündigt, den rigiden Sparkurs seines Vorgängers nicht fortzusetzen, aber wie will er das finanzieren?

Stefan Brändle: Das ist in der Tat eine Schlüsselfrage. Auf europäischer Ebene will er unter anderem erreichen, dass die Europ. Zentralbank Eurobonds herausgibt - womit er nicht Euro-Obligationen meint, sondern projektbezogene Anleihen. In Frankreich strebt er eine Steuerreform an, die zweifellos zu einer generellen Erhöhung der Steuern führen wird. Im Visier sind Grosskonzerne und Millionäre.

Etienne24: Weiß man schon, ob die Wähler von Le Pen überwiegend Sarkozy gewählt haben, oder wählten sie weiß?

Stefan Brändle: Beides. Aber beides in Massen. Laut einer ersten Erhebung haben 58 Prozent der Le Pen-Wähler im zweiten Wahlgang für Sarkozy eingelegt. Wieviel "weisse" Stimmzettel sie einlegten, ist naturgemäss schwerer zu sagen. Auf jeden Fall scheint es angesichts der beeindruckenden Stimmbeteiligung nicht, dass die Lepenisten massiv zu Hause geblieben sind. Generell lässt sich sagen: Wenn Sarkozy nicht gewählt wurde, dann aber sicher AUCH, weil er keinen massenhaften Transfer der Le Pen-Stimmen bewirkt. Zuviele dieser Wähler verabscheuen ihn heute schlicht.

Pete_Sahat: Ich war gestern am place de la Bastille bis spät in die Nacht vorort. Mich hat (auch schon bei anderen Wahlveranstaltungen der PS oder Melenchon) besonders irritiert wie nationalistisch (patriotisch) dieser Wahlkampf geführt wurde. In Österreich ode

Stefan Brändle: Es ist normal. Und es stimmt, in Deutschland oder Östereich würde man andere Töne hören. Franzosen SIND gute Patrioten, sie lieben ihr Land. Und das gilt auch für die linken Bürger, die Sie an der Bastille getroffen haben. "Nationalistisch" würde ich dieses Verhalten nicht nennen. Und nicht zu vergessen: Franzosen sind überzeugte Europäer. Vor allem die jungen Französinnen und Franzosen. Das ist für sie ebenso "normal". Und das eine schliesst das andere nicht aus.

wombat5281: Was wird Ihrer Meinung nach der größte Unterschied zwischen Sarkozy und Hollande sein?

Stefan Brändle: Ganz klar: der Stil. Sarkozy ist ein ichbezogener Egozentriker, Hollande ist ein teamfähiger Pragmatiker. Sarkozy spaltet, Hollande einigt. Politisch ist der Unterschied natürlich klar, aber bei näherem Hinschauen weniger gross als man meinen könnte: Wirtschaftspolitisch etwa ist Sarkozy keineswegs ein Neoliberaler, Hollande keineswegs ein Hardliner-Sozialist. Viele seiner engen Vertrauten in Paris und auch in Tulle, seiner lokalpolitischen Bastion, erklärten mir übereinstimmend, Hollande sei ein "Sozialdemokrat". Sarkozy sagte einmal von sich (bei einem Europaparlament in Strassburg), er sei "Sozialist"...

Dr. Watson: Was mich interessieren würde: Wie geht es bei der nach dem anscheinenden Rückzug Sarkozys aus der Politik führunglosen UMP weiter? Gibt es hier schon eine Vermutung, wer Sarkozy nachfolgt und die Wahl in die Parlamentswahlen führt?

Stefan Brändle: Das ist eine offene Frage. Offiziell ist die UMP nicht führungslos, da sie mit Jean-François Copé einen Vorsteher hat. Er wird die Partei wohl auch in die Parlamentswahlen im Juni führen. Und trotzdem ist die Partei verwaist, da ihr mit Sarkozy der "natürliche Chef" abhanden kommt. Mittelfristig, das heisst nach den Parlamentswahlen, ist mit einem Duell zwischen Copé und Noch-Premierminister François Fillon zu rechnen. Dabei wird es darum gehen, wer der Kandidat der Bürgerlichen bei den Präsidentschaftswahlen 2017 sein wird. Copé kontrolliert den Parteiapparat, Fillon ist einiges populärer. Der Ausgang ihres Duells ist deshalb offen.

Lindovksa: Sarkozy hat sich anscheinend aus der Politik verabschiedet. Erwartet ihn schon ein lukrativer Job in der Privatwirtschaft?

Stefan Brändle: Sie sagen richtig: "anscheinend". Er liess das gestern abend offen, sprach er doch nur von einem "anderen Engagement". Es gibt auch Stimmen - heute morgen zum Beispiel die Zeitung Le Parisien - , die damit rechnen, dass Sarkozy der Politik nicht völlig den Rücken kehren wird. Vor langer Zeit sagte Sarkozy einmal, im Fall einer Wahlniederlage werde er in die Privatwirtschaft gehen, um so viel Geld wie möglich zu verdienen. Aber das war eine seiner typischen Trotzreaktionen, der nicht allzu viel Gewicht beizumessen sind. An Angeboten aus der Privatwirtschaft dürfte es andererseits nicht mangeln. Sarkozy ist Jurist, war Geschäftsanwalt. Das öffnet viele Türen, viele Hypothesen.

Etienne24: Wissen sie schon, wen Holland in die Regierung holen will?

Stefan Brändle: Die Hälfte Frauen und dazu jüngere Politiker(innen). Wichtig ist natürlich die Frage, wer Premierminister(in) wird. Das schon deshalb, weil Hollande gerne delegiert und seinen Regierungschef nicht nur wie einen subalternen Beamten behandeln will, so wie das Sarkozy mit Fillon tat. Favoriten sind derzeit Martine Aubry, Manuel Valls, Michel Sapin, Jean-Mary Ayrault, Pierre Moscovici. Parteichefin Aubry hat laut Umfragen den Vorzug linker Wähler, während Hollandes Wahlkampfsprecher Valls zum rechten Flügel seiner Partei zählt. Die Nominierung wird deshalb auch eine klare politische Orientierung aufzeigen. Sapin wäre wohl der Favorit der Finanzmärkte, Ayrault eher ein Konsens-Premier. Moscovici hat als früherer Europaminister die besten Beziehungen zu den europäischen Institutionen.

snowwhite: Könnte Hollande in Europa tatsächlich einen Kurswechsel einleiten?

Stefan Brändle: Seine Wahl verschiebt zumindest die Gleichgewichte innerhalb der EU und des Euroraums. Hollandes "Wachstumskurs" wurde in Madrid und Athen begrüsst. Angela Merkel ist damit etwas isolierter. Dies auch deshalb, weil der vereinte Druck auf sie nun von aussen (Hollande) und von innen (SPD) kommt. Ob Hollandes Wahl die Wahlen in Deutschland beeinfluss kann und wird, muss sich weisen. Erst wenn Merkel nicht mehr Kanzlerin ist, könnte wirklich von einem Kurswechsel in Europa gesprochen werden.

Etienne24: Sarkozy ist ja durch seinen harte Ausländerpolitik bekannt geworden. Was für eine Politik verfolgt Hollande in dieser Hinsicht?

Stefan Brändle: Hollande tritt im Unterschied zu Sarkozy für das Ausländerwahlrecht auf Gemeindestufe ein. Das ist in Frankreich deshalb wichtig, weil es gerade in den Banlieue-Ghettos heute keine wirkliche "Volksvertretung" gibt. Zudem will Hollande die Papierlosen, die ohne gültige Dokumente ins Land gekommen sind, "von Fall zu Fall" regularisieren, wie er sagte. Sein grössere Sensibilität in diesen Fragen als Sarkozy äussert sich zum Beispiel darin dass er im "Banlieue-Departement" 93 (Seine-Saint-Denis) nordöstlich von Paris 65 Prozent Stimmen erhielt.

ModeratorIn: Liebe UserInnen, lieber Stefan Brändle. Herzlichen Dank fürs Mitchatten und die spannenden Fragen. Die Diskussion kann natürlich auch nach dem Chat weitergehen. Allen noch einen schönen Nachmittag. Vive la France.

Stefan Brändle: Vive l'Europe. Viel Sonne nach Wien!