"Europäer glaubten, dass Afrikaner Stämmen angehörten; Afrikaner gründeten Stämme, um dazuzugehören" - so fasst der Historiker John Iliffe ein Stück afrikanischer Kolonialgeschichte des 19. Jahrhunderts zusammen. Er zeigt in seinen Arbeiten, dass die Vorstellung, Afrikaner hätten vor der Kolonialisierung bereits tausende von Jahren in Stämmen gelebt, eher dem Reich der Illusionen zuzuordnen ist. Ähnlich verhält es sich heute mit Migranten und der hartnäckigen Vorstellung, diese seien Teil bestimmter "Communitys".

Afrikaner der Vorkolonialzeit hatten verschiedene, wandelbare Identitäten, schreibt Iliffe - je nach Abstammungsgruppe, Sprache oder Wohnort. Im Zuge der kolonialen Durchdringung waren die Europäer auf die Zusammenarbeit mit traditionell legitimierten Herrschern, den "Chiefs", angewiesen. Die Ressourcen für den Verwaltungsapparat reichten schlicht nicht, um das besetzte Land zu durchdringen. Um diese indirekte Herrschaft leichter planen und kontrollieren zu können, ging man kurzerhand dazu über, bestimmte Gruppen, die man als ähnlich empfand, einem Stamm zuzuordnen.
Eine Methode war, die Sprachenvielfalt auf geschriebene Sprachen zu reduzieren und unterschiedliche Mundarten diesen Sprachen zuzuordnen. Jede dieser konstruierten Sprachgemeinschaften war dann plötzlich ein Stamm. Yoruba (Nigeria), Igbo (Nigeria), Ewe (Ghana und Togo) und Shona (Simbabwe) sind Beispiele dafür.

Wer mehr als zehn Rinder besaß, wurde zum Tutsi

Alles andere als harmlos war die Zuschreibung in Ruanda. Der Historiker Gerard Prunier argumentiert, dass es die Tutsi, Hutu und Twa zwar schon vor dem Kolonialismus gab. Allerdings war die Zugehörigkeit zu einer diesen Gruppen durch den sozialen Status geregelt - ein Wechsel war also möglich. Um 1933 veranlassten die herrschenden Belgier, dass im Personalausweis der Vermerk Tutsi, Hutu oder Twa einzutragen sei. Damit wurden aus sozialen Gruppen plötzlich Ethnien. Mangels objektiver Kriterien erfolgte die Zuteilung so: Tutsi sollten all diejenigen sein, die mehr als zehn Rinder besaßen. Hintergrund: Man wollte die Vormachtstellung der privilegierten Tutsi festigen. Die Spaltung verlief teilweise quer durch Familien. 1994 kam es in Ruanda zum Völkermord. Angehörige der Hutu metzelten in 100 Tagen geschätzt eine Million Tutsi nieder.

Afrikaner arbeiteten mit Europäern zusammen

Es waren allerdings nicht alleine Europäer, die Stämme und Ethnien erfanden. Ohne die Hilfe von afrikanischen Intellektuellen wäre das häufig unmöglich gewesen. Wer seine Stellung verbessern und im Wettstreit um Ressourcen ein Wörtchen mitreden wollte, arbeitete mit den Kolonialbeamten zusammen. So organisierten Afrikaner Bündnisse aller Menschen aus umliegenden Dörfern, die in etwa dieselbe Sprache sprachen, und machten sie zu einem Stamm.

Migrantenstämme

Zurück zu den Migrantenstämmen von heute: Weit verbreitet ist die Ansicht, alle Zuwanderer und deren Kinder und Enkelkinder seien Teil einer Gemeinschaft - einer Community. Es gebe ein verbindendes Wir-Gefühl, ein Set an fixen Normen und Traditionen. Und mehr noch: Es gebe eine Art Organisation innerhalb dieser Communitys. Manche glauben gar, es gebe legitimierte "Community-Chiefs", die stellvertretend für "ihre Leute" sprechen könnten.

Manchmal kommen schlicht ein paar Menschen mit Migrationshintergrund zu Wort. Aus deren Privatmeinungen wird dann medial ein Stimmungsbild der gesamten "Community" herbeigezaubert, wie etwa bei einem kürzlich erschienen Buch von Inan Türkmen. Wissenschaftler, die sich als Kenner der "Communitys" präsentieren, sind zu viel gefragten Integrationsexperten geworden.

Politikern und Journalisten kommt das gelegen. Eine heterogene Gruppe von Menschen wird somit kategorisiert, auf gemeinsame Merkmale reduziert und dadurch leichter erreichbar. Aus Bequemlichkeit entsteht eine Illusion. Migranten, auf der anderen Seite, haben in der Vergangenheit immer wieder versucht, Communitys zu etablieren - schließlich bot sich die Möglichkeit, zu einem wertvollen Ansprechpartner zu werden.

"Communitys" gibt es nicht

Aber der Reihe nach: Was gibt es, und was gibt es nicht? Zweifellos gibt es eine Vielzahl an Vereinen. Migranten aus fast allen Herkunftsländern gründen diese, um gemeinsame Interessen zu verfolgen. Weit gefehlt ist jedoch die Annahme, diese Vereine würden untereinander alle irgendwie zusammenhängen. Auch der Glaube, alle Mitglieder eines Vereins würden die Weltanschauung der Vereinsführung übernehmen oder automatisch befürworten, ist falsch. Etliche Menschen sind in Vereinen aktiv, weil dort soziale Bedürfnisse befriedigt werden können. Sei es Klatsch und Tratsch, Nachhilfe, Computerräume oder das gemeinsame Beten.

Der Fokus auf Vereine lässt eine Tatsache außen vor: Gar nicht wenige Menschen mit Migrationshintergrund sind in gar keinem Verein aktiv. "Communitys" im Sinne einer zusammenhängenden Gemeinschaft gibt es also nicht.

Wettstreit um Mitspracherecht

Dessen ungeachtet setzten sich "Communitys" in der öffentlichen Wahrnehmung meistens aus der Gesamtheit aller Vereine zusammen. Folgerichtig gründeten Migranten Dachverbände, um "ihre" Communitys zu institutionalisieren. Sie wollten "Chiefs" sein im Wettstreit um Ressourcen und Mitspracherecht. Meistens scheiterten sie, wie etwa der "Dachverband der türkischen Vereine". Bereits kurz nach der Gründung um die Jahrtausendwende schmückten verschiedene Medien den Präsidenten des Verbandes mit dem Titel "Einer der wichtigsten Vertreter der Türken in Österreich". Dass dieser Mensch faktisch so gut wie niemanden repräsentierte - weil viele in gar keinem Verein waren und sind bzw. türkische Vereine einander teilweise sehr ablehnend gegenüberstehen - war nicht weiter von Belang.

Ähnlich verhält es sich mit der "islamischen Community", institutionalisiert in der Form der Islamischen Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGiÖ). Nicht ganz stolze vier Prozent der mehr als 500.000 Muslime in Österreich wählten im Frühling 2011 einen neuen Vorsitzenden der IGGiÖ. Er genießt seither den Titel "offizieller Vertreter aller Muslime in Österreich". Dass so mancher Moslem noch nicht einmal von seiner Existenz weiß, wie eine daStandard-Reportage gezeigt hat, spielt offenbar keine Rolle. Wichtiger ist der Titel.

In jeder größeren heterogenen Gesellschaft gibt es das Bedürfnis nach Einfachheit und Übersicht. Für die öffentliche Debatte braucht es klare Kategorien und konkrete Ansprechpartner. Nur sollte man sich darüber im Klaren sein, wie Kategorien zustande kommen und wen genau die Ansprechpartner repräsentieren. Das Herbeireden von "Migranten-Communitys" könnte dazu führen, dass es irgendwann tatsächlich welche gibt. In einem nächsten Schritt würden wir sie dann vermutlich "Parallelgesellschaften" nennen und ihre Auflösung fordern. (Yilmaz Gülüm, daStandard.at, 4.5.2012)