Barbara Stelzl-Marx: "Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945-1955", Wien/München, 864 Seiten, 49,80 Euro, Böhlau/Oldenbourg 2012.

Coverfoto: Oldenbourg/Böhlau

Wien - "Wir alle kennen die Erinnerungen an die Besatzung aus österreichischer Sicht, aber wie haben die sowjetischen Soldaten die Zeit von 1945 bis 1955 erlebt?" Diese Frage stand am Anfang der Forschungen von Barbara Stelzl-Marx, Zeithistorikerin und stellvertretende Institutsleiterin des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung in Graz. Erstmals beschäftigte sie sich mithilfe von bisher unzugänglichen sowjetischen Akten und persönlichen Interviews mit dem Alltag der rund 400.000 Rotarmisten in Österreich. Ihre Ergebnisse sind in Buchform soeben im Böhlau Verlag erschienen.

Als Ausgangsbasis für die Aufarbeitung der sowjetischen Besatzungszeit in Österreich wählte Stelzl-Marx die detailreiche Beschreibung der Ereignisse in den letzten Kriegstagen und danach. Diese reichen von den Plänen der sowjetischen Führung für Österreich über das tatsächliche Kriegsende bis zur Funktionsweise und dem Aufbau der sowjetischen Truppen. Besonderes Augenmerk legt die Grazer Historikerin aber auf die Mikroebene des Jahrzehnts sowjetischer Besatzung, auf den Alltag der Soldaten und der österreichischen Bevölkerung, ihr Mit- und Gegeneinander. "Auf beiden Seiten sind die Feindbilder, die von der jeweiligen Propaganda geprägt wurden, aufeinandergeprallt", erklärte Stelz-Marx am Freitag bei einer Pressekonferenz in Wien. Die sowjetischen Soldaten hätten sich als siegreiche Befreiungsarmee erlebt, während sie in Österreich eher als Besetzer wahrgenommen wurden.

Die menschliche Seite

Stelzl-Marx beschäftigt sich genauso mit der Verfolgung und politischen Überwachung der Menschen wie mit dem Freizeitvergnügen der Soldaten wie Fischen oder Motorradausflügen. Im Vordergrund standen dabei vor allem die Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten, auch den österreichischen Frauen. Mithilfe vieler persönlicher Interviews arbeitete sie sowohl die gefürchteten Vergewaltigungen, als auch Liebesbeziehungen und das Schicksal der daraus entstandene "Russenkinder" auf. Archivquellen, Egodokumente wie Tagebücher oder Briefe und persönliche Erinnerungen mischen sich so zu einer detaillierten Schilderung der Lebensumstände beider Seiten, etwa wenn es um den Kampf der Sowjetführung gegen Syphilis oder Prostitution geht.

Seit rund zehn Jahren beschäftigt sich Stelzl-Marx mit der sowjetischen Besatzung Österreichs. Dabei war sie vor allem überrascht, wie sehr die sowjetische Ideologie den Alltag der Soldaten prägte. "Jede Handlung hatte eine politische Tragweite", erzählte die Zeithistorikerin. So forderte die sowjetische Führung ihre Soldaten auf, den "Versuchungen des Lebens" in Österreich zu widerstehen. Vergehen wurden streng geahndet. Ehen und Beziehungen zwischen Russen und Österreicherinnen waren verboten. Fünf Frauen seien hingerichtet worden, da sie aufgrund von persönlichen Beziehungen zu Rotarmisten unter Spionageverdacht standen, so Stelzl-Marx.

Zeitdokumente

Den dritten Teil ihres über 800 Seiten umfangreichen Werks widmet Stelzl-Marx der Erinnerungskultur selbst. Fotos von sowjetischen Soldaten, die ihnen fremde Städte und Gebräuche ablichteten, stehen neben professionell produzierten Propaganda-Dokumentarfilmen, die den Erfolg der Rotarmisten für die Ewigkeit festhalten sollten. Auch Zeitungen und Texte prägten das Bild der österreichischen Besatzung nachhaltig, oft mit konkreten Zielen. Dabei sei die Erinnerung der Rotarmisten an die Zeit in Österreich durchgehend positiv, erklärte Stelzl-Marx. "Es gibt eine Assoziationskette Sieg, Frühling, Jugend, Wienerwald und Musik, vor allem Johann Strauss." Ins kollektive Gedächtnis der Sowjetunion sei das dann vor allem durch die geschickte Inszenierung der sowjetischen Führung, aber etwa auch durch den bekannten Hollywoodfilm "The Great Waltz" eingegangen.

"Ich bin überzeugt, die Sicht auf die sowjetische Besatzung in Ostösterreich wird eine differenzierte werden", fasste Stefan Karner, Leiter des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, die Arbeit zu dem sensiblen Thema zusammen. Die Erschließung der neu geöffneten russischen Archive sei aber noch lange nicht abgeschlossen, so Karner. Das nächste Projekt des Instituts beschäftigt sich mit der Wende in Ostmitteleuropa aus Sicht des "Kremls". (APA/red, derStandard.at, 5.5.2012)