Meldet sich ein Opfer sexualisierter Gewalt öffentlich zu Wort, brechen in der Folge oft viele weitere ihr Schweigen. Zuletzt konnte dieses Phänomen bei den Missbrauchsfällen in Einrichtungen der katholischen Kirche beobachtet werden. Dass sich dazu auch das Internet eignet, beweist die Initiative #ichhabnichtangezeigt. Sexualität im Internet wird meist mit Pornografie in Verbindung gebracht, dass es sich auch um emanzipatorische, befreiende Momente handeln kann, zeigen die Initiatorinnen aus München.

Seit 29. April rufen sie Frauen dazu auf, via Twitter, Facebook oder ihre Website zu sagen, warum sie sexuelle Gewalt nicht angezeigt haben. "Sie sind vergewaltigt worden, waren sexualisierter Gewalt ausgesetzt und haben dies nicht oder noch nicht angezeigt? Bitte brechen Sie Ihr Schweigen. Machen Sie es öffentlich. Schreiben Sie, warum Sie noch nicht oder niemals Anzeige erstattet haben. Hier ist Platz für Ihre Stimme. Wir glauben Ihnen", lautet der Aufruf. Die Resonanz auf ihren Aufruf ist enorm, verblüffend und erschütternd zugleich.

"Ich habe nicht angezeigt weil, ...

  • ... es in der Familie war.
  • ... ich ihn in meine Wohnung gelassen habe.
  • ... ich mir jahrelang dachte, mir das alles nur eingebildet zu haben.
  • ... ich dachte, mir glaubt niemand.
  • ... ich mich schäme.
  • ... ich davor Angst hatte, meine Familie zu verlieren.
  • ... ich dem hiesigen Rechtssystem zutiefst misstraue. Weil ich an eine gerechte Wahrheitsfindung im Gerichtssaal nicht glaube ... die Rechtsprechung oftmals selbst Gewalt ausübt.
  • ... ich mich im Gerichtssaal nicht verarschen und retraumatisieren lassen will.
  • ... mein Mund aus lauter Scham statt eines 'Ich wurde vergewaltigt' nur ein 'Es hat wehgetan' formen konnte ..."

Kein Einzel-, sondern Strukturproblem

Die zahlreichen Schilderungen der Betroffenen zeigen, dass Gewalt an Frauen kein Einzelschicksal darstellt, sondern als Strukturproblem begriffen werden muss. Eine Studie des deutschen Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zeigt die Problematik in Zahlen: 37 Prozent der befragten Frauen haben körperliche Übergriffe seit dem 16. Lebensjahr erlebt; 13 Prozent der Befragten haben sexuelle Gewalt seit dem 16. Lebensjahr erlitten. Greift man auf einen breiteren Gewaltbegriff zurück und bezieht somit schwere Formen von sexueller Belästigung ein, steigt dieser Anteil auf 34 Prozent.

England und Frankreich als Vorbilder

Die Initiatorinnen Daniela, Elodia, Inge, Sabine und Sonja* wollen das Schweigen brechen, die Dunkelziffer ans Licht bringen, vor allem aber ein Bewusstsein dafür schaffen, wie enorm das Ausmaß sexualisierter Gewalt nach wie vor ist. Gegenüber dieStandard.at erklären sie, dass die "Mythologisierung rund um sexuelle Gewalt aufhören muss. Eine Schulung von PolizistInnen über den Umgang mit traumatisierten Opfern ist eine unserer Hoffnungen. Wir wollen dabei keine staatlichen Organisationen angreifen, sondern schlicht aufzeigen, dass da ein Riesenproblem vollkommen tabuisiert wird."

Inspiriert wurden sie durch ähnliche Kampagnen, die es in England (#ididnotreport) und Frankreich (#jenaipasoportéplainte) bereits gab, auch die "Nein heißt nein"-Debatte hatte die Frauen motiviert. Nach Abschluss der Aktion am 31. Mai wollen sie eine Zusammenfassung der anonymisierten Erfahrungen, Nachrichten und Tweets der Polizei und der Staatsanwaltschaft übergeben. Sie werden die staatlichen Institutionen zu einer öffentlichen Stellungnahme zum Klima des Schweigens auffordern - "einem Klima, das nur den Tätern nützt". Dabei wollen sie so "laut werden, dass Wegschauen nicht mehr geht". (eks, dieStandard.at, 4.5.2012)