Ein Kind unter anderen, ein Mädchen, das sich auf ein Rollenspiel einlässt: Zoé Héran (li.) beeindruckt als "Tomboy" in Céline Sciammas aktuellem Spielfilm.

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Céline Sciamma (31) studierte Drehbuch an der Pariser Filmschule La Femis. Ihr Debüt "Water Lilies" (2007) lief beim Filmfestival in Cannes. " Tomboy" ist ihr zweiter abendfüllender Spielfilm.

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Wien - Die zehnjährige Laure ist ein Mädchen, das gerne jungenhafte Dinge tut: Fußballspielen, im Gras herumtollen, ihrem Vater beim Autofahren beistehen. Mit ihren kurzen Haaren und in Hosen gleicht sie auch optisch mehr dem anderen Geschlecht; und so geschieht es, dass sie eines Tages für einen Jungen gehalten wird und sich Michael nennt. Aus der Verwechslung wird ein Spiel, das sie verlängert und mit dem sie sich an einer anderen Identität erprobt.

Céline Sciammas mehrfach preisgekrönter Film Tomboy registriert das Geschehen aus maßvoller Distanz und erzeugt gerade dadurch das Gefühl großer Intimität. Aus dem Rollenspiel des Mädchens wird kein Coming-of-Age-Film, es geht auch nicht darum, queere Identitätspolitik zu verfolgen. Lieber belässt es Sciamma bei einer inszenatorischen Offenheit, die viele unterschiedliche Anknüpfungspunkte ermöglicht.

STANDARD: Im Mittelpunkt des Films steht ein zehnjähriges Mädchen, das sich als Junge ausgibt. Warum fanden Sie gerade dieses kindliche Alter so interessant?

Sciamma: Es gibt wenige Filme, die so früh ansetzen - das gefiel mir schon einmal. Sich für die Kindheit zu entscheiden, wenn man Identität verhandeln will, hat den Vorteil, dass die Dinge noch nicht so sexualisiert sind. Es geht weniger um Begehren als um Fantasien. Die Kindheit ist doch generell eine Phase im Leben, in der jeder noch versucht, jemand anderer zu sein. Man möchte einen Nachmittag lang ein Doktor sein, dann der Cousin des Nachbarn ...

STANDARD: ... oder ein Tier ...

Sciamma: ... genau - ich dachte, das Publikum könnte mit dieser Idee schnell etwas anfangen. Mir schwebte ein sehr intimer Zugang zu einem universellen Thema vor.

STANDARD: Mir gefiel, dass es keinen Auslöser gibt: Der Beginn des Spiels ist unklar. Warum?

Sciamma: Mir ging es nicht um psychologische Motive, eine These. Ich wollte nicht ergründen, was das Mädchen sucht. Das "wie" interessierte mich viel mehr: Tomboy ist ein Actionfilm. Ich habe eine Geschichte entworfen, in der sich alles um Fakten dreht. Laure spielt den Buben, weil sie für einen solchen gehalten wird. Dieses erste Quidproquo erlaubt es, im Spiel zu bleiben, zuzuschauen, wie sie es angeht.

STANDARD: Die Eltern sind spezifisch angelegt: Zum Vater fühlt sich das Mädchen hingezogen, aber er ist wenig da; die Mutter ist schwanger, etwas, das Kinder oft als Bedrohung wahrnehmen.

Sciamma: Ich hatte eigentlich wenig über Elternschaft zu sagen und wollte vermeiden, dass sie die Situation für sich einnehmen. Sie bleiben außerhalb dieses Spiels, einmal abgesehen vom Ende. Die Momente, die Laure mit ihrem Vater verbringt, sind wie Luftblasen; ich wollte eine Zärtlichkeit zeigen, die sich selbst genügt. Die Schwangerschaft schafft dagegen eine Gelegenheit für das Mädchen, sich zu absentieren. Es wird für sie leichter zu lügen.

STANDARD: Wie wichtig war es für Sie, mit der Konfusion des Betrachters hinsichtlich des Geschlechts der Hauptfigur zu spielen?

Sciamma: Der Film ist auf diesem Spiel mit dem Publikum aufgebaut. Die ersten zehn Minuten ist nicht klar, ob es sich um ein Mädchen oder einen Jungen handelt. Selbst wenn man es weiß, wird man mit anderen Fragen im Unklaren gelassen. Mir gefällt, dass jeder Besucher damit anders umgehen kann. Der Film erzählt ja auch viel über die Kindheit von Jungen. Die müssen den ganzen Druck bezüglich Maskulinität und Geschlecht aushalten.

STANDARD: Am Ende zieht Laure ein blaues Kleid über - das verändert noch einmal die Wahrnehmung. Wo haben Sie das denn gefunden?

Sciamma: Es war eine visuelle Obsession, sie in ein Kleid zu stecken! Im Kleid sieht sie noch mehr nach einem Jungen aus. Sie können sich gar nicht vorstellen, wie verdammt schwer es war, dieses blaue Teil aufzutreiben - offenbar müssen alle Mädchen rosa oder lila Kleider tragen.

STANDARD: Der Film hat etwas sehr Unbeschwertes. Die Kamera ist erstaunlich ruhig. Wie haben Sie die Szenen mit den Kindern gedreht?

Sciamma: Ich habe wenig Handkamera benutzt, meist nur Travellings. Ich wollte nicht, dass die Kamera autoritär wirkt. Ich wollte die Kinder nicht einschränken mit dem Bild, ihnen aber auch nicht den Raum überlassen. Ich entscheide über den Bildausschnitt. Die Dynamik des Films ist eine, die eher der Schnitt herstellt.

STANDARD: Sie haben aber digital gedreht?

Sciamma: Ja, mit einer kleinen HD-Fotokamera. Sie verfügt über viel Tiefenschärfe, sodass der Unterschied zu 35 mm gar nicht einmal so groß ist. Außerdem haben alle unsere Kindheitserinnerungen mit Fotos zu tun. Ich wollte keinen Film drehen, der Kindheit nostalgisch behandelt, aber eine Idee davon sollte sich in die Form einschleichen.

STANDARD: Wie haben Sie Zoé Héran gefunden? Glück oder lange Suche?

Sciamma: Ich hatte Glück. Andererseits schafft man sein Glück ja selbst. Ich schrieb den Film in drei Wochen, und ich hatte drei Wochen, um ihn fertigzustellen. Ich ging also zu Kinder-Darsteller-Agenturen, wovor ich eigentlich Angst hatte - lauter trainierte kleine Affen, verstehen Sie? Als ich sagte, dass ich nach einem jungenhaften Mädchen suche, verwies man mich an Zoé. Sie war keine kleine Prinzessin - und ich habe sie am ersten Tag meiner Suche kennengelernt. (Dominik Kamalzadeh, DER STANDARD, 5./6.5.2012)