
Vorn sitzend von links: Vera Adams, Dorli Neale und Vera Graubart. Stehend die Innsbrucker Gemeinderätin Gerti Mayr.
Wer zeichnet hier wen aus, das frage ich mich in der Österreichischen Botschaft in London, höre von "jüdischen Mitbürgerinnen" reden, sehe Vera Adams, Vera Graubart und Dorli Neale. Drei Innsbruckerinnen, die fast ein Dreivierteljahrhundert nach ihrer Vertreibung ins englische Exil mit der höchsten Auszeichnung ihrer Geburtsstadt bedacht werden, mit dem Verdienstkreuz der Stadt Innsbruck. Was mag in ihnen vorgehen, ist da Genugtuung, Verlegenheit, gar Erleichterung, dass die Zeremonie bald vorüber ist?
Wohl von allem etwas, Genugtuung, die sie nicht für die eigene Person reklamieren, was die Verlegenheit bedingt, und die Erleichterung ist allzu verständlich. Dabei dauert der Akt der Verleihung keine Viertelstunde. Aber die Wochen davor, das innere Zerwürfnis, ob das Verdienstkreuz anzunehmen sei; Stunden, die jegliche Verdrängungsmechanismen aushebeln, mit der Erinnerung leben zu müssen ist eines, sie sich zu vergegenwärtigen ein anderes. Plötzlich wieder die Bilder von der Flucht, vom Kindertransport, von der Ankunft in der Fremde.
Hinzu kommen die körperlichen Strapazen. Vera Adams, auf Krücken angewiesen, reist aus Plymouth an, bezieht auf eigene Veranlassung mit ihrem Mann Kenneth ein Hotelzimmer, um nicht am gleichen Abend die mehr als 300 Kilometer zurückfahren zu müssen. Vera Graubart kommt aus St Albans, gut 35 Kilometer nördlich von Central London gelegen. Begleitet wird sie von ihrem Cousin Michael Graubart, 1930 in Wien geboren, 1938 aus Österreich vertrieben. Nach der Verleihung lassen sich die beiden überreden, zumindest ein Taxi zur Victoria-Station zu nehmen. Ich fahre mit ihnen zum Bahnhof, um sie nicht der Peinlichkeit auszusetzen, selbst die Kosten auslegen zu müssen. Zu diesem Zeitpunkt ist auch Dorli Neale längst auf dem Heimweg, 89 ist sie, seit Jahren plagen sie Schmerzen in den Beinen. Von ihren Söhnen und deren Ehefrauen wurde sie begleitet, von ihnen nach Hause gebracht. Nein, die drei Damen sind nicht auf fremde Hilfe angewiesen. Ob man sie aber nicht in einem Hotel hätte unterbringen können?
Das Botschaftsgebäude am Belgrave Square ist das einzige, das der österreichischen Diplomatie im Ausland aus k. u. k. Zeiten erhalten blieb.
Ein würdiger Rahmen, ein stimmiger vor allem. Er bringt den drei Vertriebenen etwas zurück, von dem ihre Eltern gesprochen haben, für das ihre Väter ins Feld gezogen sind, in Galizien, am Isonzo, in den Dolomiten. So erwirken die imperialen Räumlichkeiten unversehens eine Atmosphäre, die in Gesprächen und Reden nicht zu evozieren ist, schon gar nicht in Zeilen wie diesen.
Freilich, die Gegenwart hat ein anderes Gesicht, dieses zeigt sich am Hintereingang der Botschaft, wo Asylsuchende sich anstellen in der Hoffnung auf einen Stempel, ein Visum. Und es ist die Gegenwart, die Vera Adams, Vera Graubart und Dorli Neale nie aus den Augen verloren haben. Davon durfte ich mich als Mitglied einer Projektgruppe überzeugen. Mit der Philologin Irmgard Bibermann, dem Zeithistoriker Horst Schreiber und einem Kamerateam war ich auf den Spuren noch lebender, 1938 aus Innsbruck Vertriebener. Wir fanden sie in England und Israel, sprachen über die Vergangenheit, die alte Heimat, immer auch über die neue, nicht zuletzt über die Heimatlosigkeit. Vor der Verleihung führten wir noch ein Gespräch mit Vera Graubart, auf Englisch, sie fühle sich sicherer darin. Dann gemeinsam zur Botschaft, wo Vera Graubart das erste Mal auf Vera Adams und Dorli Neale trifft, sie unterhält sich mit ihnen, auf Deutsch.
Einen Tag vor der Zeremonie wurden Bibermann, Schreiber und ich gefragt, ob wir nicht die Kurzvorstellung der drei Auszuzeichnenden übernehmen könnten. Die Vergabe erfolgte durch Gemeinderätin Gerti Mayr in Vertretung der Innsbrucker Bürgermeisterin: "Sie und Ihre Familien haben die furchtbaren Ereignisse des Nationalsozialismus in Innsbruck miterlebt. Trotzdem blieb Ihre Nähe zu unserer Stadt auch in der Ferne stets aufrecht, und daher ist die Verleihung des Verdienstkreuzes ein Zeichen der Verbundenheit der Stadt Innsbruck mit Ihnen."
Innsbruck, Anfang der 1920er-Jahre, die jüdische Gemeinde ist klein, was sie nicht vor Hetzkampagnen feit. Als Dorli Neale 1923 zur Welt kommt, gibt es den Tiroler Antisemitenbund bereits seit vier Jahren. Religion spielt in ihrer Familie eine so unauffällige Rolle wie bei den meisten Innsbrucker Jüdinnen und Juden, im Hinterhof eines Geschäftshauses ein Gebetsraum, die Synagoge. Allen Anfeindungen zum Trotz zählen einige jüdische Unternehmen bald zu den wichtigsten Wirtschaftsfaktoren der Stadt, machen sich um das Gemeinwohl verdient, unterstützen Tourismusbestrebungen.
Kurzum, sie sorgen für einen Aufschwung, was ihnen mit Neid gedankt wird. Der ist das Öl im Feuer der "furchtbaren Ereignisse", ihm widerfährt durch eine menschenverachtende Ideologie lediglich die Legitimation. In Innsbruck, wo jeder jeden kannte, begann im März 1938 auch eine Zeit, in der persönlichen Animositäten freier Lauf gelassen werden konnte.
Die Eltern von Dorli Neale, Friedrich und Rosa Pasch, besaßen ein Modehaus in der Maria-Theresien-Straße. Unweit davon das damals größte Warenhaus Westösterreichs, dessen Mitgesellschafter Ernst Schwarz war, Vera Adams Vater. Beide Betriebe wurden "arisiert" wie das Schuhhaus Graubart, das Vera Graubarts Vater Richard mit seinen Brüdern eignete. Den "Arisierungen" gingen Wochen öffentlicher Diffamierung voraus, " Hängts die Juden, stellts die Schwarz an die Wand", Brandworte und Fensterschmierereien, Demontage der Menschenwürde.
Dies ebnete der Hemmungslosigkeit den Weg, die Innsbruck zu einem der blutigsten Schauplätze der Novemberpogrome machte. Hatte man schon zuvor mit Nachdruck Jüdinnen und Juden nach Wien ausgewiesen, so wurden die in der Stadt verbliebenen in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 Zielscheibe der SA und SS. Die drangen in Wohnungen ein, verprügelten deren Besitzer, Friedrich Pasch einer von ihnen, auch vor seiner Tochter Dorli machte die Horde nicht halt.
Vera Adams Vater entging dem Schlägertrupp nur, weil er bereits seit Oktober 1938 in Haft saß, um zum Verlassen der Stadt gefügig gemacht zu werden. Nach seiner Entlassung floh er nach England, wohin sich seine zehnjährige Tochter Vera bereits im August 1938 mit einem Kindertransport retten konnte. Dass die Rollkommandos wie in der Villa der Familie Graubart stets auf gepackte Koffer stießen, zeigt, dass die Familien bereits ihren Ausweisungstermin hatten, sie waren so gut wie weg.
Der Innsbrucker Parteispitze aber ging die Enteignung zu langsam, Habgier war ihre Motivation, die vier Morde in dieser Nacht waren Raubmorde. Richard Graubart wurde in seiner längst Parteigenossen zugesprochenen Villa von Frau und Kind separiert, die hörten ihn aus dem Nebenzimmer gellend aufschreien, das Einzige, woran sich seine damals vierjährige Tochter Vera Graubart heute noch erinnern kann. Ihr Vater kannte seine Mörder, wie sie ihn kannten, sie waren Innsbrucker wie er.
Ende November 1938 gelangte Vera mit ihrer Mutter Margarethe Graubart nach Wien, dann mit einem Kindertransport nach England, ihre Mutter folgte Monate später. Ihre Großeltern mütterlicherseits sah sie nie wieder, ebenfalls nach Wien ausgewiesen, wurden sie von dort in den Osten deportiert.
Innsbruck, Anfang der 1950er-Jahre, die Restitutionsverfahren schleppen sich dahin, was den einst Vertriebenen zurückerstattet wird, spottet jeder Beschreibung. Vera Adams, Vera Graubart und Dorli Neale kehrten nach dem Krieg mehrmals in ihre Geburtsstadt zurück, heimisch wurden sie nicht mehr. Daran ändern auch die Verdienstkreuze nichts, mit deren Vergabe die Stadt Innsbruck aber einen ehrbaren Weg der Anerkennung eingeschlagen hat. Für viele zu spät. Margarethe Graubart bezog erneut die Villa, wohnte dort bis 1996, ehe sie das Haus an eine ihr bekannte Familie verkaufte und aus gesundheitlichen Gründen zu ihrer Tochter nach England zog.
Dieses Haus, wie in der Presseaussendung der Stadt, als "inoffizielle Gedenkstätte für die Ereignisse der Novemberpogrome in Innsbruck" zu bezeichnen, suggeriert nicht nur das Vorhandensein einer offiziellen, die es nicht gibt, sondern ist schlicht eine Anmaßung. Im Taxi zur Victoria-Station frage ich Vera Graubart, was ihr das Verdienstkreuz bedeute. Sie werde es zur Tapferkeitsmedaille ihres Vaters aus dem Ersten Weltkrieg legen. "Für meine Mutter", mit diesen Worten hatte sie das Verdienstkreuz entgegengenommen, in Gedenken an ihre Eltern und Großeltern, womit sie auch im Sinn von Vera Adams und Dorli Neale sprach. Weniger ein Zeichen der Nähe zur Stadt als eines zu jenen, die sich um sie verdient gemacht und dann alles in ihr verloren haben. Innsbruck darf sich der Auszeichnung freuen, dass Vera Adams, Vera Graubart und Dorli Neale das Verdienstkreuz angenommen haben. (Christoph W. Bauer/DER STANDARD, 5./6.5. 2012)