Das Sparen ist offenbar aus der Mode geraten in Europa: In Frankreich wird an diesem Sonntag wahrscheinlich ein Präsident gewählt, der mit der Sparpolitik Schluss machen will und Europa stattdessen ein Wachstumspaket empfiehlt. Auch in Griechenland wird gewählt. Die regierenden Parteien haben sich in den vergangenen Tagen kaum noch auf die Straße getraut, um ihre Sparpolitik zu rechtfertigen. In den Niederlanden ist eine Regierung gescheitert, weil sie ihren mageren Budgetplan erst einmal nicht verabschieden konnte. In Italien und Spanien mehren sich die Stimmen, die nicht nur kürzen, sondern auch Programme für Wirtschaftswachstum sehen wollen. Sie alle lehnen den vermeintlich deutschen Weg ab. Auch die deutsche SPD hat die Nase voll von der Austeritätspolitik .

Wenn diese Leute tatsächlich Erfolg haben sollten, ist der Euro nicht zu retten. Zwar würde ein Wachstumspaket mehr oder weniger weder schaden noch besonders nutzen. Doch mit der Forderung nach Wachstumspaketen ist untrennbar die Erwartung verbunden, man könne sich die notwendige Sanierung des Gemeinwesens sparen, wenn es nur gelänge, Wirtschaftswachstum zu produzieren.

Frankreich ist das beste Beispiel, warum das nicht klappen kann: Das Land leistet sich einen Staatssektor, der mehr als die Hälfte der Wirtschaftsleistung verschlingt. François Hollande will das nicht etwa ändern: Er will 60000 neue Lehrer einstellen, das Pensionsalter wieder auf 60 Jahre reduzieren und damit den Staatskonsum noch nach oben treiben. Das lässt sich mit einer Reichensteuer nicht finanzieren, dazu müsste Frankreich in der derzeitigen Wirtschaftslage neue Schulden machen.

Spaniens Immobiliensektor ist immer noch deutlich überdimensioniert - ein Wachstumsprogramm, das hier die Jobs erhielte, würde die kranke Struktur konservieren. Griechenland hat keine funktionierende Steuerverwaltung. Ein europäisches Aufbaupaket würde den Druck mindern, zuverlässige eigene Einkommensquellen zu erschließen.

Krugman und Stiglitz am Holzweg

Das ignoriert die Riege der prominenten Wirtschaftswissenschaftler wie Paul Krugman oder John Stiglitz, die der deutschen Bundeskanzlerin nun vorwerfen, im Stile Heinrich Brünings die europäische Wirtschaft zugrunde zu richten. Brüning war der letzte deutsche Reichskanzler vor der Machtergreifung Adolf Hitlers. Er hatte vergeblich versucht, die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise in Deutschland mit einem massiven Sparprogramm, Steuererhöhungen und Lohnkürzungen zu bekämpfen.

Doch die Situation heute ist eine grundlegend andere: Denn erstens ist das Interesse der USA am Euroraum im Augenblick nahezu ausschließlich auf Wachstum gerichtet. Der Euroraum soll für die amerikanische Wirtschaft die eigene Flaute und die sich abzeichnende Verlangsamung des Wachstums in China kompensieren. Dazu kommt: Je stärker politisches Versagen in Europa konstatiert wird, desto weniger gravierend erscheinen die Probleme im eigenen Land. Dass die US-Notenbank zur Zeit die Märkte mit Geld überschwemmt, hat zwar der Wirtschaft im Wahljahr eine kleine Blüte beschert. Zur Solidität amerikanischer Staatsanleihen aber trägt diese Strategie nicht bei. Krugman und Stiglitz argumentieren also auch pro domo, wenn sie die Schwäche des Euroraums beklagen und auf dem alten Kontinent staatlich finanzierte Konjunkturspritzen verlangen.

Das zweite Problem ist, dass kein Geld mehr da ist. Europa hat in der Phase der unmittelbaren Krisenbekämpfung seit Ausbruch der Finanzkrise im Jahr 2007 sein Pulver verschossen. Für neue Konjunkturspritzen ist kein Geld mehr da - es sei denn, die Europäische Zentralbank würde mehr davon drucken.

Das würde auf lange Sicht nur eines bedeuten: Inflation. Ließe die Europäische Zentralbank das zu, würde sie ihre Rolle als Schiedsrichter endgültig verlieren. Sie würde Teil des Spiels. Das ist nicht der Auftrag, den ihr die Gründerväter des Euro gegeben haben. Die EZB soll und muss über die Preisstabilität wachen. Das ist alles.

Es wäre verheerend, wenn die Sozialdemokraten Europas bei der Haltung blieben, ein bisschen mehr staatlich organisiertes Wachstum könne den harten Weg zurück in die Wettbewerbsfähigkeit ersetzen. Wenn der Reformdruck von den Ländern des Südens genommen wird, wird nicht weiter reformiert.

EU im Dilemma

Die EU im Dilemma: Die akute Notlage der Banken in Spanien ist etwas anderes als das Beglückungsprogramm, das François Hollande den Franzosen verspricht. Das griechische Desaster unterscheidet sich dramatisch von den Sparzwängen, die die Niederländer verspüren. Doch wenn die EU nun auf den Kurs einschwenkt, den ohnehin schon weichen Fiskalpakt zu schwächen, wird sie alle Probleme auf einmal bekommen: Sie muss Spanien retten - und anschließend wieder und weiter Rettungspakete für Länder wie Griechenland, Portugal und womöglich Italien schnüren.

Damit würde ein dauerhafter Finanzausgleich zwischen den EU-Staaten unausweichlich, wiewohl es für den im Norden Europas - siehe Niederlande - in der derzeitigen Verfassung des Währungsraums keine Mehrheit gibt. Europa würde dann gespalten: in diejenigen, die ihre Hilfe für die Länder des Südens mit schmerzhaften Reformen im eigenen Land bezahlen müssten. Und in diejenigen, die sich mit wohlfeilen Wachstumsversprechen über diese Hilfe hermachen.

So bitter das ist: Europa kann seinen Mitgliedsstaaten nur helfen, die Folgen der Finanzkrise zu bewältigen. Ihnen das Sparen und Reformieren abnehmen, kann und darf es nicht. Auch dann nicht, wenn sich jetzt tatsächlich eine Mehrheit gegen den vereinbarten Weg formieren sollte. (Ursula Weidenfeld, DER STANDARD, 5.5/6.5.2012)