Der Kochsche Enzian (Gentiana acaulis) kommt in Höhen zwischen 800 und 3.000 Meter vor. Er zählt damit zu den weniger vom Klimawandel gefährdeten Arten. Viel bedrohter sind dagegen die zahlreichen hochalpinen endemischen Pfanzen. Einige davon könnten in den kommenden Jahrzehnten völlig verschwinden.

Foto: APN/Eckehard Schulz

Wien - Zahlreiche hochalpine Pflanzenarten sind von den steigenden Temperaturen akut gefährdet, auch wenn dies nur langsam unmittelbare Auswirkungen zeigt: Rund 40 Prozent der Bestände von Hochgebirgspflanzen der Alpen werden in näherer Zukunft in Gebieten zu finden sein, die sich für ein dauerhaftes Überleben nicht mehr eignen. Dabei können zwischen dem Zeitpunkt, an dem aufgrund geänderter Umweltbedingungen eine Regeneration der Bestände unmöglich wird, und dem tatsächlichen Verschwinden einer Art Jahrzehnte vergehen, wie Wiener Wissenschafter mit Hilfe einer neuen Modellierungsstudie herausgefunden und in der Fachzeitschrift "Nature Climate Change" veröffentlicht haben. Deshalb wird das gesamte Ausmaß der Auswirkungen des Klimawandels auf die Alpenpflanzen erst mit jahrzehntelanger Verzögerung zu erkennen sein.

Bisher eingesetzte Modelle zur Simulation der Auswirkungen des Klimawandels auf Pflanzen gehen von einer Verschiebung der Verbreitungsgrenzen von Pflanzenarten in Richtung der Pole bzw. in höhere Lagen der Gebirge aus. Dabei werden aber die in solchen Übergangszeiten entstehenden Dynamiken zumeist völlig ignoriert, betonte Karl Hülber vom Wiener Institut für Naturschutzforschung und Ökologie (VINCA). Stefan Dullinger vom Department für Naturschutzbiologie, Vegetations- und Landschaftsökologie der Uni Wien hat gemeinsam mit Hülber und internationalen Kollegen ein neues Modell entwickelt, das realistischere Prognosen erlaubt, weil es die Dynamiken von Wanderungsprozessen detailliert abbildet, so der Wissenschafter.

Ausgehend von der heutigen Verbreitung haben die Forscher basierend auf prognostizierten Klimaänderungen die Arealveränderungen von 150 Gebirgspflanzenarten berechnet. Dabei zeigte sich, dass diese Arten bis zum Ende des 21. Jahrhunderts im Durchschnitt 44 bis 50 Prozent ihrer heutigen Fläche verlieren. Diese Verluste sind deutlich geringer als mit traditionellen Modellierungstechniken vorausgesagt.

Hart im Nehmen

Der Grund dafür ist das Phänomen der "Aussterbe-Verzögerung", das in bisherigen Modellen nicht berücksichtigt wurde. Um langfristig an einem Standort zu überleben, muss eine Pflanze den gesamten Reproduktionszyklus abwickeln können, also Samen bilden, keimen, heranwachsen, blühen und schließlich wieder Samen bilden. Wird dieser Zyklus etwa durch Veränderungen der Standortbedingungen in Folge des Klimawandels unterbrochen, ist die Art an diesem Standort todgeweiht. Doch es dauert eine Zeitlang, bis sie tatsächlich verschwindet, denn ausgewachsene alpine Pflanzen "halten durchaus Einiges aus, auch klimatische Veränderungen", so Hülber.

Diese Aussterbe-Verzögerung beträgt im Schnitt der 150 untersuchten Arten 40 bis 50 Jahre. In den kommenden Jahrzehnten werden daher wahrscheinlich nur moderate Verluste an Pflanzenarten in den Alpen zu beobachten sein. "Das sagt aber nichts über die längerfristige Zukunft dieser Arten aus - irgendwann stirbt auch die widerstandsfähigste und langlebigste Pflanze und dann ist es vorbei", so der Experte.

Endemische Arten besonders gefährdet

Besonders empfindlich auf den Klimawandel reagieren der Studie zufolge endemische Arten, also Pflanzen deren Verbreitung auf Teilgebiete der Alpen beschränkt ist. Drei von vier dieser Arten werden mindestens 80 Prozent ihres derzeitigen Verbreitungsgebietes einbüßen, weil sie klimatisch geeignete Areale nicht erreichen können. Verstärkend kommt hinzu, dass diese Arten häufig in Randgebieten der Alpen vorkommen, wo geringere Gipfelhöhen ein Ausweichen in höhere Lagen nicht ermöglichen und die damit zur klimatischen Falle werden. "Dies ist besonders besorgniserregend, weil endemische Arten ein natürliches Erbe darstellen, das einzigartig für eine Region ist und im Falle des lokalen Aussterbens einen unwiederbringlichen Verlust bedeutet", so Hülber. (APA/red, derstandard.at, 12.5.2012)