Camilo Guevara: "Kuba hat schon vor Fidel existiert und es wird auch weiter existieren. Fidel ist Teil der Revolution, aber er ist nicht die Revolution."

foto: derStandard.at/rasch

Guevara zum Konflikt Kuba vs. EU: "Stellen Sie sich vor, die kubanische Botschaft in Madrid würde einen offiziellen Empfang für die ETA abhalten."

foto: derStandard.at/rasch

Camilo Guevara, der älteste Sohn des argentinischen Revolutionärs Ernesto "Che" Guevara, ist anlässlich des 75. Geburtstages seines Vaters zu Gast in Wien. Das Gespräch führte Berthold Eder.

derStandard.at: Was ist Ihre Funktion im kubanischen Staat und was führt Sie nach Österreich?

Guevara: Ich arbeite im Centro de Estudios Che Guevara in Havanna – eingeladen bin ich sowohl als Mitarbeiter des Forschungszentrums als auch als Familienangehöriger des Che, weil derzeit auf der ganzen Welt anlässlich des 75. Geburtstags von Che Guevara Ausstellungen organisiert werden, auch in Österreich, und zwar in Wien und in Graz. Am vierten Juli werden wir in der steirischen Landeshauptstadt die Ausstellung Ernesto Che Guevara – Photograph eröffnen.

derStandard.at: Ich habe mehrere Interviews mit Ihnen gelesen und die Journalisten fragen Sie immer wieder nach Ihrem Vater. Nervt Sie das?

Guevara: Es sind immer die gleichen Fragen - ziemlich ermüdend sowohl für mich als auch für die Leser.

derStandard.at: Wie sehen Sie die Zukunft der von den USA initiierten Gesamtamerikanischen Wirtschaftszone ALCA angesichts des zunehmenden Widerstandes in Lateinamerika? (Anm.: Venezuelas Präsident Hugo Chavez, Boliviens Evo Morales von der Bewegung zum Sozialismus (MAS), der bei der Präsidentschaftswahl im vergangenen Sommer den zweiten Platz erreichte, Brasiliens sozialdemokratischer Präsident Lula und Ecuadors Lucio Gutierrez wollen eine gemeinsame Front gegen die Freihandelspläne der USA bilden)

Guevara: Die ALCA ist ein altes Projekt, um die US-Vorherrschaft zu sichern – der gleiche Hund mit einem anderen Halsband, wie wir sagen.

Die USA versuchen schon seit langem, Lateinamerika unter ihre Kontrolle zu bringen. Kuba war immer in vorderster Front gegen dieses Vormachtstreben. Der Autor José Martí (1853-1895) ist ein gutes Beispiel für diesen Kampf.

Die USA versuchen derzeit, ihre Herrschaftsansprüche in Lateinamerika nicht allzu offensichtlich zu stellen – früher war die Sache viel einfacher, sie intervenierten militärisch – obwohl mich das schon wieder an die aktuelle Situation erinnert - setzten Regierungen nach ihren Wünschen ab oder ein, je nach den Wünschen der Großkonzerne. Für uns Kubaner ist das Teil unserer Geschichte.

Ich weiß nicht, ob die Freihandelszone ALCA eine Zukunft hat – eigentlich sollte sie keine haben. Die USA sind sehr mächtig, sie können auf viele Arten die Entscheidungen der lateinamerikanischen Regierungen beeinflussen.

Andererseits radikalisiert sich die Bevölkerung von Tag zu Tag mehr, der Neoliberalismus war ein totaler Misserfolg, das Experiment ist wie seine Vorgänger fehlgeschlagen. Die Tendenz, dass sich Lateinamerika dagegen zu Wehr setzt, ist unübersehbar, aber nun wird eben versucht, die Freihandelszone über einzelne Abkommen und Verträge – sowohl öffentlich als auch geheim - zu verwirklichen. Ich vertraue jedoch darauf, dass die Völker – zumindest unser Volk – dies nicht zulassen werden. Brasilien und Venezuela haben sich bereits gegen das Projekt ausgesprochen, wir setzen auch starke Hoffnungen auf Argentinien. Wir werden sehen – ohne diese wirtschaftsstarken Länder wird die Freihandelszone kaum zu realisieren sein.

derStandard.at: Glauben Sie, dass die USA eine lateinamerikanische Wirtschaftsunion im Sinne von Chavez´ "Achse der Guten" (Brasilien, Venezuela, Kuba) zulassen werden?

Guevara: Die derzeitige Lage spricht nicht dafür – niemand hat die USA daran gehindert, den Irak anzugreifen, es gibt Demonstrationen, die Bevölkerung ist gegen den Krieg, aber die Proteste bewirken nichts – am Schluss setzen die USA ihre Interessen durch.

Sie versuchen, mit militärischen Mitteln den Weg für ihre Wirtschaftsinteressen – mag man es nun Raub oder Ausbeutung nennen – freizumachen.

Die USA sind dabei, alte Rechnungen zu begleichen – ob als nächstes der Iran oder Kuba kommt, weiß man nicht. Ich befürchte, dass schwere Zeiten auf uns zukommen. Das wichtige ist die Reaktion der kubanischen Bevölkerung. Wenn ein Volk sich entschließt, zu kämpfen, mit aller Entschlossenheit und für eine gerechte Sache, kann es siegen. Wir wissen, wovon wir reden – schließlich haben die USA trotz der geringen Entfernung von nur 90 Meilen in 44 Jahren es nicht geschafft, uns zu besiegen – auch wenn die Sowjetunion schon vor zehn Jahren zu existieren aufgehört hat. Wir werden sehen ...

derStandard.at: Was haben Sie zu den Repressionen gegen kubanische Dissidenten zu sagen? (Anm.: Im April hat ein kubanisches Gericht mehrere prominente Regierungskritiker zu langjährigen Haftstrafen verurteilt.) Das Verhältnis zwischen Kuba und der EU hat sich dadurch erheblich verschlechtert.

Guevara: Das Problem mit der EU hat meiner persönlichen Meinung – ich bin aber kein Politiker – nach nichts mit den Gerichtsurteilen, sondern eher mit der Uneinigkeit innerhalb der EU in Bezug auf die nordamerikanische Aggression gegen den Irak und weitere Länder zu tun.

Ich habe den Eindruck, dass die USA Drohungen gegen Europa aussprechen, weil einige Mitgliedsstaaten der EU den Angriff auf den Irak nicht unterstützt haben. Die Europäer geben sich in diesem Fall als Söldner der USA her, und natürlich musste Kuba reagieren.

Wir können uns den Luxus nicht leisten, darauf zu warten, dass die US-Soldaten tausende Kinder und alte Leute töten – wir wissen, dass die amerikanische Artillerie nicht besonders gut zielen kann. Wir versuchen, Konfrontationen zu vermeiden, aber wir sind ein souveräner Staat, wir werden unsere Revolution, die tausende Menschenleben gekostet hat, verteidigen – in dieser Zeit hat uns niemand geholfen. Die EU hat sich damals auch nicht über die Massaker an der Zivilbevölkerung aufgeregt. Wir werden nicht zulassen, dass sich jemand in die inneren Angelegenheiten unseres Landes einmischt – wir tun das ja schließlich auch nicht.

Wenn sie (die EU, Anm.) das verstehen, wäre es schön für uns – aber wenn sie sich weigern, es zu verstehen, tut uns das zwar sehr Leid, aber wir gehen unseren Weg trotzdem weiter.

Was man nie vergessen darf, ist, dass wir in Kuba schon sechzig Jahre Kapitalismus – so genannte "Demokratie" – hatten. Es gab viele Parteien, aber keine löste die Probleme des Landes. Abgesehen von einigen wenigen Linksparteien vertraten sie alle nur ihre eigenen und die nordamerikanischen Interessen.

Die so genannte "Opposition" in Kuba vertritt ebenfalls nur die Interessen der USA. Sie hat kein politisches Programm, die USA finanzieren sie und erteilen Anweisungen.

Dieser Kampf existiert nicht erst seit der kubanischen Revolution, es gab immer schon politische Strömungen, die entweder die Unabhängigkeit oder eine Annäherung an die USA unterstützten. Für das Verständnis der Problematik ist es unabdingbar, die Geschichte unseres Landes zu kennen – das Thema kann man nicht in so kurzer Zeit abhandeln.

derStandard.at: Bei einem kürzlich in Havanna stattgefundenen Protestmarsch gegen die EU-Sanktionen haben die Demonstranten der EU "Nazifaschismus" vorgeworfen. Teilen Sie diese Ansicht?

Guevara: Was wirklich gesagt wurde, ist dass Aznar und Berlusconi Faschisten und Kriminelle sind – und das ist wahr. Berlusconi hat sich dank seiner Macht mehreren Strafprozessen entzogen. Mich erinnert seine Politik an den italienischen Faschismus.

Und Aznar, der Vertreter des spanischen Partido Popular, die das Erbe des Diktators Franco repräsentiert – diese beiden haben Stellung gegen Kuba bezogen. Deswegen zogen die Demonstrationen auch zu den Botschaften dieser beiden Länder.

Aznar hat sein Land in den Krieg gegen den Irak geführt, obwohl 91 Prozent der Bevölkerung dagegen waren – das ist für mich unverständlich.

Ich verstehe auch nicht, wie die Spanier, die die meisten Investitionen in Kuba getätigt haben, plötzlich auf Konfrontationskurs gehen. Als kapitalistisches Land müssten sie doch ein Interesse haben, ihr Kapital zu schützen – aber der US-Einfluss ist offenbar stärker.

Für mich vertreten diese beiden Regierungen die Interessen ihrer Bevölkerung äußerst schlecht. Offenbar erwarten sie sich ein – politisches oder materielles – Almosen von Seiten der USA. Immerhin baut Spanien ja gerade acht U-Boote für die US-Navy.

Die Rechnung wird ihnen bei den nächsten Wahlen präsentiert werden.

Die EU-Mitgliedsstaaten wollen ihre Botschaften – ganz im Gegensatz zu ihrer bisherigen Politik – für all die öffnen, die gegen die kubanische Regierung sind.

Stellen Sie sich vor, die kubanische Botschaft in Madrid würde einen offiziellen Empfang für die ETA abhalten – am nächsten Tag würde eine Invasion stattfinden, die Nordamerikaner, die EU und ich weiß nicht wer sonst noch würden uns angreifen.

Diese Politik der EU ist nicht logisch – für mich ist sie auf den Konflikt zwischen der EU und den USA in Bezug auf den Irak-Krieg zurückzuführen.

derStandard.at: Wie wird Kuba nach Castro aussehen?

Guevara: Das ist auch so eine Frage, die mir immer wieder gestellt wird. Kuba hat schon vor Fidel existiert und es wird auch weiter existieren. Fidel ist Teil der Revolution, aber er ist nicht die Revolution. Die Revolution ist ein sozialer Prozess. Führungspositionen können sehr wohl mit jungen Menschen, die bereits Erfahrungen auf Provinzebene gesammelt haben, besetzt werden.

Wir Kubaner hatten keine andere Wahl, als unsere Rolle in der Geschichte zu erfüllen. Wir suchen keine Auseinandersetzung mit den USA, aber wenn sie uns provozieren ...

derStandard.at: Was war Ihrer Meinung nach der größte Fehler Ihres Vaters?

Guevara: In seinem Abschiedsbrief schreibt er, dass sein größter Fehler war, Fidel Castro nicht genügend vertraut zu haben, als dieser, um den Kampf gegen die Batista-Diktatur aufrecht zu erhalten, eine Reihe von Zugeständnissen machte. Das erschreckte den Che zuerst – erst später verstand er die Tragweite dieser Entscheidung.