Für europäische Begriffe ist es merkwürdig, daß eine Mannschaft ihre Heimspiele auf zwei Städte aufteilt. Nagoya, die Großstadt, die sich gern als Zentrum japanischer Technologie sieht, mit eleganten Geschäften im Zentrum, internationalen Restaurants und Konditoreien, hohen Türmen und kilometerweiten unterirdischen Labyrinthen voller Geschäfte, Cafés, Büros, Hotels, Vergnügungshallen – und Toyota, Sitz der gleichnamigen Autofirma in einem dicht besiedelten, aber bis heute ländlich geprägten Gebiet, verschlafen und provinziell wirkend. Mit der Stadtbahn erreicht man Toyota bequem und schnell, etwa vierzig Minuten von Nagoya aus. Das Zentrum ist, wie in vielen neuen japanischen Städten, der Bahnhof und seine unmittelbare Umgebung. Die Betreiber von Department Stores stoßen in Toyota auf Schwierigkeiten, offenbar ist die Kauflust hier weniger ausgeprägt. Die Geschäfte im Matsuzakaya-Gebäude wirken altbacken; im letzten Stock sind Spielräume für Kinder mit Hinweisen in portugiesischer Sprache für die zahlreichen brasilianischen Familien, die sich in den letzten zehn Jahre in der Stadt angesiedelt haben.
Etwa fünfzehn Minuten Fußweg sind es bis zum Toyota-Stadion. Von der neuen weißen Bogenbrücke über den Yahagi-Fluß sieht das Stadion mit seinen vier spitzen Pfeilern, an denen das Dach hängt, aus wie eine riesige, um einen imaginären Fußball gewundene Dornenkrone. Die Anlage ist nach englischem Vorbild gebaut, mit steil ansteigenden Rängen möglichst nahe am Spielfeld. Die Firma Toyota, anfangs in der Textilbranche tätig, hat dieser Stadt den Stempel aufgedrückt und ihr 1959 auch den Namen gegeben. Die Gewinne der Firma kommen nicht nur sportlichen, sondern auch kulturellen Einrichtungen zugute. Frühzeitig wurde von den nationalbewußten Eigentümern (bis heute keine Verbindungen mit ausländischem Kapital) ein System der sozialen Fürsorge entwickelt, im besonderen für die Zuwanderer aus allen Teilen Japans. Die Bevölkerungszahl Toyotas ist heute fünfundzwanzigmal so hoch wie 1930. Zuwanderung aus dem Ausland ist ein relativ neues Phänomen. Vor allem Brasilianer aus der Gegend um Sao Paolo, viele von ihnen mit japanischen Vorfahren, hat es hierher verschlagen. Doch seit die japanische Wirtschaft stagniert, die Arbeitslosenzahlen steigen, kommt es auch in Toyota zu Konflikten, wie sie in Europa gang und gäbe sind. Ueslei Raimundo Pereira da Silva, die Sturmspitze von Nagoya Grampus, ein dunkelhäutiger, bulliger Brasilianer, ist in gewisser Weise ihr Spieler. Im Stadion kann man immer einige der roten Grampus-Fahnen mit grün-gelbem Zusatzwimpel sehen. (Nach österreichischen Farben sucht man vergebens. Einen einzigen Fan im Vastic-Trikot der österreichischen Nationalmannschaft haben wir gesichtet.) Wenige Bahnstationen vor Toyota liegt der Ort Miyoshi. Hier, in einer weitläufigen Sportstadt mit Einrichtungen für Leichtathletik, Fußball und Baseball, dem in Japan weitaus populärsten Mannnschaftssport, befinden sich das Vereinshaus und die Trainingsplätze von Nagoya Grampus. Während wir das Training beobachten, hören wir allerlei Sprachen vom Spielfeld: Japanisch, Englisch, Slowenisch, Portugiesisch und manchmal auch Deutsch – aus dem Munde von Trainer Verdenik, der früher bei Austria Wien tätig war. Im Japanischen sind viele Ausdrücke der Fußballsprache dem Englischen entlehnt. Vastic erklärt im Gespräch: „Fußball wird sehr schnell gespielt, da hat man keine Zeit zum Diskutieren. Man verwendet eher kurze Worte, oft auch die englische Sprache. Im Japanischen gibt es diese Wörter nicht so, es würde zu lange dauern...“ Auf dem Trainingsplatz sind zwei Übersetzer, einer übersetzt aus dem Slowenischen ins Japanische, der andere ist der persönliche Übersetzer von Ueslei. Einen Deutsch-Übersetzer gibt es hier nicht. Nur zu Hause, in Nagoya, rufen die Vastic‘ manchmal eine Übersetzerin an, die ihnen zur Verfügung steht, wenn sie im Alltagsleben nicht allein zurecht kommen.
Vastic ist der letzte Spieler, der das Trainingsfeld verläßt. Während seine Kollegen, unter ihnen Andrej Panadic, schon in der Umkleidekabine sind, läuft er noch einige Runden um den Platz. Danach übt er zusammen mit einem Assistenten auf ihn zugeschnittene Spielsituationen: von halbrechts aus dem Mittelfeld auf den Strafraum zulaufen, dann ein Haken, Schuß aus der Halbdistanz... Im Sekretariat hatte man uns bereits gesagt, daß Vastic ein besonders fleißiger Spieler ist – eine Eigenschaft, die Japaner zu schätzen wissen. Vastic, bescheiden wie eh und je, erklärt seine Philosophie: „Arbeit ist das Wichtigste, Talent ohne Arbeit hilft nicht viel. Besonders in einer Zeit wie der heutigen, wo alle sehr schnell spielen... Außerdem ist für mich nach dem Training die schönste Zeit zum Trainieren. Da kann ich machen, was ich will, oder was mir fehlt, und wofür im Mannschaftstraining keine Zeit ist.“ Das alles steht nicht im Widerspruch zu seiner ideenreichen, oft intuitiven Spielweise. Bei Nagoya Grampus ist seine Position offensiver als früher bei Sturm Graz. Das sei von Anfang an so geplant gewesen: „Ich spiele reine Sturmspitze und hole die Bälle, wenn es nötig ist. Ich habe die Möglichkeit, viel zu wechseln, und bin dadurch für die gegnerische Mannschaft schwerer auszurechnen.“
Viele meinen, Ueslei und er könnten zusammen das beste Stürmerduo in Japan bilden. Jedenfalls dann, wenn die Mannschaft funktioniert, was in der letzten Saison nicht immer der Fall war. Vastic sieht sich selbst als Spieler fürs Kollektiv, der Brasilianer hingegen ist Indivdualist: torhungrig und, fügen wir hinzu, manchmal ein bißchen eigensinnig. Daß Nagoya Grampus seine Leistungen vom Saisonbeginn nicht halten konnte, liegt Vastic zufolge vor allem daran, daß der Kader klein ist. Ausfälle können nur schwer verkraftet werden. Vastic selbst bekam zweimal die gelbe, einmal die rote Karte (zu unrecht, wie alle hier sagen): „Das sind schon zwei Spiele Pause. Dann war ich beim Nationalteam und habe auch dieses Spiel gefehlt.“ Natürlich braucht Vastic bei seinem Klub noch mehr Zeit, um sich einzugewöhnen; wie auch umgekehrt seine Kollegen Zeit brauchen, um zu verstehen, wie er „fußballerisch denkt“. Für den nach dem Kaiser benannten Tenno-Cup, den Nagoya schon zweimal gewonnen hat (einmal unter Trainer Arsène Wenger) zeigt sich Vastic optimistisch, mit der Mannschaft gehe es jetzt wieder aufwärts. Beim Sieg gegen Serezo Osaka sollte Vastic drei von fünf Toren vorbereiten. Gegen Kyoto Purple Sanga, eine der besten Mannschaften im vergangenen Herbst, war dann allerdings Endstation: 1:2 im Toyota-Stadion.
Kyoto, die alte Hauptstadt Japans, mit dem Shinkansen eine Dreiviertelstunde von Nagoya entfernt, hat Vastic unlängst mit seiner Familie zusammen besucht. Dieses wache Interesse eines Fußballprofis für das, was außerhalb der Stadien vor sich geht, erinnert an seinen ehemaligen Trainer Ivica Osim (jetzt bei Jef Ichihara tätig), von dem Vastic sagt, er sei für seine Entwicklung als Spieler ausschlaggebend gewesen. Kyoto schildert Vastic als typisch japanische Stadt, wie es sie sonst kaum noch gebe. Auch Nagoya gehört zu den vielen modernen japanischen Städten mit breiten Verkehrsadern und Autobahnen, die sich in mehreren Etagen kreuzen. „In Kyoto ist das ein bißchen anders, da gibt es ein altes Zentrum, man kann herumspazieren und die alte Geschichte von Kyoto kennenlernen. Kyoto ist auch nicht so groß, man kann sich als Fußgeher dort besser bewegen. Aber in Nagoya ist das auch kein Problem, ins Zentrum brauche ich mit der Subway ungefähr 25 Minuten, das ist nicht so schlimm.“ Auch das Einkaufsviertel, vollständig mit transparenten Dächern versehen, so daß sich ein System von Passagen und Galerien ergibt, gefällt ihm: „Wenn es regnet, kann man ohne Schirm herumlaufen. Das ist sehr schön gemacht, sehr weitläufig und interessant.“ Außerdem fließt ein Fluß mitten durch Kyoto, wie die Mur in der steirischen Hauptstadt... „Ja“, sagt Vastic, „das erinnert ein bißchen an Graz. In Nagoya habe ich noch keine Mur gesehen... Ich habe gehört, die Mur-Insel soll schon fertig sein. Wissen Sie etwas darüber? Die bauen eine Insel in die Mur, direkt im Zentrum, beim Kastner & Öhler. Da kann man dann Kaffee trinken, und auch kulturell wird dort etwas gemacht...“ Anscheinend hängt Vastic an der Stadt, in der er zum Fußballstar wurde. In Graz besitzt er ein Haus und „viele Freunde“, dorthin möchte er eines Tages zurück. Vielleicht als Trainer? Ja, womöglich. Vastic ist bewußt, daß er diesen Beruf erst erlernen muß, um ihn auszuüben.
Ein Thema, das die Japaner selbst sehr interessiert, ist das hiesige Essen – und wie Ausländer damit umgehen. Vastic ißt es gern, aber nur im Restaurant. Zu Hause wird „europäisch gekocht, oder wie wir es aus Kroatien gewöhnt sind.“ Bei den Zutaten gibt es manchmal Schwierigkeiten, oft merke man erst, worum es sich handelt, wenn schon serviert ist. Vastic selbst kocht nicht, das machen seine Frau und deren Mutter. Zusammen mit den Kindern leben sie zu sechst in Meito-ku, einem östlichen Stadtteil von Nagoya, ziemlich ruhig, mit buddhistischen Tempeln und Universitätscampussen. Oft bringt Vastic seine Kinder in die internationale Schule, wo die Unterrichtssprache englisch ist. Auf diese Weise kommt er mit anderen Eltern in Kontakt – viele von ihnen Ausländer, aber es gibt auch japanische Kinder in der Schule. Einen Vorteil des Legionärsdaseins sieht Vastic darin, daß er mehr Zeit für die Familie hat. In Graz seien die Kinder fast ohne Vater aufgewachsen.
Wir stellen Vastic die Frage, ob es so etwas wie einen japanischen Stil im Fußball gibt. Man könnte vermuten, daß der brasilianische Einfluß stark ist, nachdem die meisten Legionäre seit vielen Jahren aus diesem Land kommen. Auch Zico, derzeit Trainer der japanischen Nationalmannschaft, war hier – bei den Kashima Antlers - als Spieler tätig. Daß in der J-League der Kollektivismus vorherrsche, wie etwa Ivica Osim vor seinem Abflug nach Japan meinte, scheint uns ein Vorurteil zu sein. Sportliche und gesellschaftliche Strukturen müssen nicht zwangsläufig übereinstimmen. Japanische Baseballstars, die in der amerikanischen Major League erfolgreich sind, zeichnen sich meist durch ihre (womöglich durch disziplinierte Arbeit erreichte) individuelle Technik aus, und ähnliches gilt für Hidetoshi Nakata oder Shunsuke Nakamura in der italienischen serie a. Nach Vastic‘ Erfahrung spielen japanische Fußballmannschaften ein bißchen hektischer und schneller als europäische. Auch ungeduldiger. Der japanische Fußball sei weniger taktisch orientiert als der in Europa. Außerdem sei die Liga – vielleicht nicht besser als die österreichische, aber auf jeden Fall interessanter. „In Österreich ist derzeit die Wiener Austria überlegen. Da kann man schon im voraus wissen, gegen wen die Mannschaft gewinnen wird und gegen wen es eventuell eng wird. In Japan kann man das nie sagen. Die Spiele, die wir drei oder vier zu null gewonnen haben, hätten wir genauso drei oder vier zu null verlieren können, und umgekehrt. Man kann vorher nicht wissen, wer gewinnt. Für die Zuschauer ist das sehr spannend. Alle versuchen offensiv zu spielen, und oft fallen sehr viele Tore. Es gibt keine Mannschaft, die aufgibt. Jeder kämpft bis zum Schluß.“ Vastic‘ eigener Spielweise kommen solche Verhältnisse entgegen. Auch das ein Grund, warum er sich hier wohl fühlt.
Und die sogenannte Fankultur? Man sieht hier so gut wie nie junge Leute in Fußalltrikots auf der Straße, wie das in europäischen – und noch mehr in südamerikanischen – Ländern üblich ist. Andererseits sieht man im Stadion dann ganze Sektoren einheitlich in den Farben ihrer Mannschaft. Vastic meint, die Fans brächten den Spielern sehr viel Respekt entgegen und stünden bedingungslos zur Mannschaft. „Wir waren so oft im Rückstand, aber die Fans haben uns immer weiter unterstützt und vorangepeitscht, und wir haben gekämpft und dann noch Spiele gewonnen durch das Verdienst der Fans. Insofern ist es sehr angenehm, in Japan zu spielen, denn du weißt, das Publikum steht immer hinter dir. In Österreich, wenn man nach einer Viertelstunde oder zwanzig Minuten kein Tor schießt, fangen die Leute zu pfeifen an. Das habe ich hier nie erlebt.“ Was die Trikots betrifft, so meint Vastic, in Österreich seien es vor allem Kinder, die sie anziehen, wenn sie in die Schule gehen. Und in Japan tragen fast alle Schulkinder ihre Schuluniform. Deshalb haben sie nicht die Möglichkeit, zu zeigen, zu welchem Verein sie gehören. Auch Vastic‘ eigene Kinder tragen hier die bei den meisten Kindern durchaus beliebte Uniform (es gibt sogar kleine Moden, Details, die nur Eingeweihten auffallen). Der Vater findet das in Ordnung, seine Kinder seien eben „wie alle anderen“. In Graz, berichtet er, haben sie sogar in der Bettwäsche von Sturm Graz geschlafen. „Wir mußten das kaufen, auch Fahne, Trikots, alles, was Kinder so interessiert...“ Eine Frage, die sich unvermeidlicher Weise stellt: Wie fern ist der österreichische Fußball gerückt? Will Vastic tatsächlich nicht mehr in der Nationalmannschaft spielen? Antwort: „Ich will schon, aber ich kann nicht.“ Das hängt nicht nur mit den körperlichen Strapazen zusammen, sondern auch mit dem japanischen Terminkalender, der nicht auf das europäische Spielprogramm abgestimmt ist. Acht Stunden Zeitunterschied, fünfzehn Stunden Flug, keine Zeit, um den Körper zu regenerieren: Soll doch lieber ein ausgeruhter Spieler spielen, das bringt für die Mannschaft mehr. Und dann bedeutet jeder Einsatz in der Nationalmannschaft ein versäumtes Spiel bei Nagoya Grampus. „Das ist mein Arbeitgeber, er bezahlt mich, ihm bin ich die Leistung schuldig.“ Vastic mag ein fußballerisches Genie sein; in erster Linie ist er ein vorbildlicher Mitarbeiter der Firma.
Das Trainingsgelände von Miyoshi liegt inzwischen im Dunkeln; der Portier des Vereinslokals macht sich bemerkbar. „It’s okay“, sagt Vastic, aber der Portier denkt selbst ans Nachhausegehen. Draußen, zwischen Spiel- und Parkplatz, wartet noch eine Schar Grampus-Fans, um ein Autogramm zu ergattern. Zwei junge Mädchen bitten uns, ein Foto zu schießen – mit dem Handy, wie es in Japan alltägliche Gewohnheit ist. Ivo freundlich lächelnd in der Mitte, die Mädchen links und rechts an seiner Seite, zwei Finger zum Victory-Zeichen gespreizt. Vastic, der stille Familienmensch, ist auch in Japan ein Frauenliebling.